Garth Greenwell: "Reinheit"

Schamlos schöner Roman über Eros und Liebe

05:54 Minuten
Ein Mann mit nacktem Oberkörper hält eine verschmutze Glasscheibe vor sein Gesicht, sodass er nicht erkennbar ist.
© Ullstein Buchverlage GmbH

Garth Greenwell

Aus dem Englischen von Daniel Schreiber

ReinheitClaassen, Berlin 2022

304 Seiten

23,00 Euro

Von Ingo Arend · 23.02.2022
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In seinem neuen Roman „Reinheit“ über einen jungen, schwulen Amerikaner, der in Sofia lebt, fächert der amerikanische Schriftsteller Garth Greenwell die ganze Spanne sexueller und emotionaler Spannungszustände auf.
„Es ist, was es ist, sagt die Liebe“. Mit seinem berühmten Gedicht zielte der Lyriker Erich Fried auf ein mit rationalen Mitteln nicht zu fassendes Gefühl. Diese Erfahrung des Ausgeliefertseins grundiert auch Garth Greenwells neuen Roman.
In „Reinheit“ kehrt der 1978 geborene Schriftsteller, Kritiker und Pädagoge zur Szenerie seines ersten, viel gelobten Romans „Was zu Dir gehört“ (2018) zurück: einem jungen schwulen Amerikaner, der als Sprachlehrer in Sofia liebt und lebt.
„Reinheit“ nun folgt keinem klassischen Plot. Stand im ersten Roman die unwahrscheinliche Liebe zu einem jungen Stricher im Mittelpunkt, fächert der namenlose Protagonist diesmal in neun, nur lose verbundenen Geschichten die Spannweite des unentrinnbaren Eros auf.
Immer wieder folgt Greenwells Held seinem Hang zum flüchtigen Sex in den unterirdischen Toiletten des Sofiaer Kulturpalastes. In der Beziehung zu R., einem jungen portugiesischen Erasmus-Studenten, den er über eine Dating-Website kennengelernt hat, gibt er sich dann ungläubig der echten, tiefen Liebe hin.

Zwischen Verlangen und Schmerz

Stets schwankt dieser Eros zwischen Verlangen und Schmerz. Das Bedürfnis nach Unterordnung und Bestrafung, dem sich der Protagonist bei einem SM-Date mit einem älteren Schwulen ergibt, kehrt er während der ersten Liebesszene mit seinem späteren Geliebten seinerseits in brutale Dominanz um.
Die beiden zentralen, gleichsam spiegelbildlich angelegten Kapitel lassen sich als Beleg dafür nehmen, dass Greenwell sein poetischer Vorsatz gelungen ist, zu „hundert Prozent Pornografie (zu) schaffen und hundert Prozent Kunst“.

Sexuelle Gewaltakte und zärtliche Gefühle

Der peinigenden Akkuratesse, mit der Greenwell diese sexuellen Gewaltakte beschreibt, kontrastieren die berührend beschriebenen Gefühle der Zuneigung zu dem jungen Mann, seiner Schönheit, der Intensität ihrer Begegnungen. „Sein Lächeln tauchte alles, was wir taten, in eine Art Reinheit“.
Greenwells Roman ist aber kein schwuler Kitsch. Oder ein LGTB-Sittenbild in Bulgarien, wo gleichgeschlechtlich Liebende selbst beim unverfänglichen Gespräch im Café auf jede Geste achten müssen.
Die postsozialistische Tristesse des „Scheißlandes“, aus dem alle nur wegwollen, fungiert als Kontrastfolie einer größeren Verwirrung. Des Protagonisten erotische Manie sind nur das Symptom einer existenziellen Unbehaustheit, einer Fremdheit im Leben selbst.
„Ich lief etwas schneller, angetrieben von dem Unbehagen, das mich immer überkommt, wenn ich nicht mehr weiß, wo ich bin“ dämmert dem Protagonisten nach dem Gespräch mit R., in dem klar wird, dass sie sich trennen müssen.

Fremdheit im Leben selbst

Überzeugte Greenwells Erstling mit einer Amour fou, gelingt ihm in seinem neuen Werk ein nuancenreiches, von Daniel Schreiber sensibel übersetztes Patchwork emotionaler und sexueller Spannungszustände. Seine besondere Qualität macht zudem ein Ich-Erzähler aus, der sich in diesen Abgründen verfängt, zugleich aber mitleidlos beobachtet und analysiert.
Roland Barthes legendäre „Fragmente einer Sprache der Liebe“, einer Ehrenrettung der romantischen Liebe, sind nur begrenzt anwendbar auf einen Roman, der Liebe extrem körperlich definiert.
Und doch ist Greenwells schamlos schöner Roman ein Beleg von Barthes‘ darin formulierter Einsicht, „dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist.“

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