Reiner Kunze: "die stunde mit dir selbst"

Das Leben feiern – mit allem, was ihm heilig ist

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"Verneigt vor alten bäumen euch, und grüßt mir alles schöne" - in Reiner Kunzes neuem Gedichtband geht auch um Alter und Abschiednehmen. © Cover: Verlag S. Fischer, Foto: imago
Von Michael Opitz · 24.07.2018
Nach zehn Jahren meldet sich der fast 85-jährige Reiner Kunze mit einem neuen Gedichtband zu Wort. In 42 Gedichten feiert Kunze das Leben und nähert sich zum Schluss in zarten und behutsamen Worten Tod und Abschiednehmen.
"Nicht noch einmal / Nicht noch einmal / so verführbar Nicht noch einmal / so gefährdet Nicht noch einmal / eine mögliche Gefahr", heißt es in Reiner Kunzes Gedicht "porträtfoto von sich selbst von vor sechzig Jahren", das sich in seinem neuen Gedichtband "die stunde mit dir selbst" findet.
Der 1933 in Oelsnitz/Erzgebirge geborene Lyriker, der in wenigen Wochen 85 Jahre alt wird, sieht sich auf einem Foto als Fünfundzwanzigjährigen. Vor sechzig Jahren, 1958, ging von ihm eine "mögliche Gefahr" aus, weil er damals, wie er heute weiß, politisch "verführbar" war. Vollkommenheit aber, so gibt er in dem Gedicht "verlangt vom dichter nicht" zu bedenken, kann man allein vom Gedicht, nicht aber vom Dichter erwarten. Denn auch wenn das Gedicht "ohnegleichen" ist, ist es wahrscheinlich, dass ihm der Dichter "das wasser [...] nicht reichen" kann.

Bruch mit der DDR-Ideologie

Zum Bruch mit der in der DDR herrschenden Ideologie kam es 1959 und 1968. Nach dem Einmarsch der Staaten des Warschauer-Paktes in die ČSSR, trat Kunze aus der SED aus. Schließlich siedelte er 1977 in die Bundesrepublik über. Ein Jahr zuvor hatte sein Buch "Die wunderbaren Jahre" – eine Abrechnung mit den politischen Verwerfungen in der DDR – nur im Westen erscheinen können und Kunze war aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden.
In seinem Brief an den Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker, in dem er um seine Ausreise ersuchte, verwies er darauf, dass es sich bei dem im Buch thematisierten Geschichten nicht um "Randerscheinungen, sondern um Erscheinungen aus der Mitte" der Gesellschaft handle. Nur im Westen waren bereits seine ersten beiden Gedichtbände "sensible wege" (1969/1976) und "zimmerlautstärke" (1972/1977) erschienen, im Unterschied zu seinem Lyrikband "brief mit blauem siegel" (1973), der mit 15.000 verkauften Exemplaren einer der erfolgreichsten, in der DDR publizierten Gedichtbände war.

Ein klug komponierter Band

Die Mehrzahl der 42 Gedichte ist – der Band gliedert sich in fünf Abteilungen – im Jetzt verortet. Kunze macht Station in Helsinki, Porto oder in Czernowitz und er erweist Dichtern wie Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger (einer in Czernowitz geborenen Lyrikerin, die 1942 im Arbeitslager Michajlovka umkam) und Paul Celan seine Referenz.
Behutsam verwendet Kunze die Worte in seinen Gedichten. Es hat den Anschein, als würde er sich in einer Zeit, in der verschwenderisch mit Wörtern umgegangen wird, ganz bewusst beschränken wollen: Klug hat Kunze seinen neuen Band komponiert. Eröffnet wird er mit dem Gedicht "verstreutes kalenderblatt", einem Gedicht, in dem an den Mittsommertag – den längsten Tag im Jahr – erinnert wird. Während in diesem Gedicht mit dem Licht das Leben gefeiert wird, nähert er sich im letzten Gedicht "fern kann er nicht mehr sein" dem Tod. Das lyrische Ich versucht in diesem Gedicht, sich an die Finsternis zu gewöhnen: "Noch dämmert er, / der neue tag // Doch sag ich, ehe ich’s / nicht mehr vermag: / Lebt wohl!"

Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018
72 Seiten, 18 Euro.
Erscheint am 25. Juli.

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