Reihe "Originalton"

"Orinoco Flow" - nicht ohne meine Physiotherapeutin

Eine Physiotherapeutin betreut eine Patientin, die zur Stärkung der Rückenmuskulatur eine Übung macht.
Eine Physiotherapeutin betreut eine Patientin, die zur Stärkung der Rückenmuskulatur eine Übung macht. © picture alliance / dpa / Klaus Rose
Von René Hamann · 31.05.2016
Der Schriftsteller und Lyriker René Hamann läuft für die "Lesart" mit einem Aufnahmegerät durch die Straßen seiner Heimatstadt Berlin, um für unsere Reihe "Originalton" Geschichten aus seinem Alltag einzusammeln.
"Oh, lass mich stranden.
Trag mich zurück ins Meer.
Lass mich die Welle reiten.
Segel weg, segel weg, segel weg."
Am Sonntag will meine Physiotherapeutin ohne mich segeln gehen. Sie hat eine Jolle und macht irgendeinen Segelschein. Den Sportbootführerschein See. Ich frage sie, was für Schuhe man zum Segeln braucht. Sie sagt,
"Du brauchst welche mit weißen Sohlen."
Sie sagt,
"Ich habe Neoprenschuhe."
Ich liege auf der Massagebank und stelle mir einen See vor. Wellen wie von van Gogh. Die flachen, sinnlichen Hügel Brandenburgs im Hintergrund. Die Sonne, die auch prima ohne den Menschen auskommt. Schwimmen möchte man in diesem See nicht, es ist ein Brackwasser, es ist lebensgefährlich. Die Schiffbrüchigen holen ihre Wracks ans Ufer. Weil sie das tun müssen. Andere lassen ihre Schiffe einfach untergehen. Die Segler, beflissen wie sie sind, jedoch nicht. Ich rette ein Holzgestell, das vielleicht einmal ein Segel war.

Die Liebe zur Physiotherapeutin

Ich liebe meine Physiotherapeutin. Ich komme kaum noch ohne sie aus. Ich traue mich nicht mehr, ans Meer zu fahren für ein paar Tage, weil ich da ohne sie sein muss. Ich sehe sie zweimal in der Woche. Sie dreht mir den Hals um. Mal nach rechts, mal nach links. Sie sitzt dicht an mich geschmiegt, hinter mir.
Ich komme immer etwas verliebt da raus. Sie sagt:
"Die Signale des Körpers."
Gehe ich durch die Stadt, mache ich jede halbe Stunde fast unwillkürlich eine Übung zur Lockerung des Schultergürtels: Beide Schultern kreisen bei hängenden Armen nach hinten. Es knackt dann immer in der Schulter links.
Seitdem ich diese Nackenprobleme habe, fallen mir Menschen auf, die in den U-Bahn-Stationen sitzen und den Nacken entspannen. Sie kippen den Kopf nach rechts, recken ihn nach links. Junge Menschen, die zu viel aufs Telefon schauen.
Das Bild eines jungen Manns auf einem Konzert hat mich tagelang verfolgt: Er hatte einen Tick. Ließ den Kopf alle ein bis zwei Minuten schräg nach rechts unten kippen. Immer und immer wieder.
Visualisierung soll ja auch helfen. Man stelle sich eine Seelandschaft vor, um sich zu entspannen. Für einen Moment raus.
"Oh, lass mich stranden.
Trag mich zurück ins Meer.
Lass mich die Welle reiten.
Segel weg, segel weg, segel weg."
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