Jan Müggenburg (Hg.): "Reichweitenangst"

Wenn der Saft ausgeht

07:02 Minuten
Cover "Reichweitenangst"
© Transcript
ReichweitenangstTranscript Verlag, Bielefeld 2022

298 Seiten

35,00 Euro

Von Michael Schornstheimer · 23.04.2022
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Der leere Akku ist zu einer zentralen Metapher für Erschöpfung geworden. Der Sammelband "Reichweitenangst" widmet sich dem Thema aber auch ganz konkret. Denn eine "tote" Batterie bedroht uns inzwischen nahezu existenziell.
Auch wer den Begriff „Reichweitenangst“ vielleicht noch nie gehört hat, weiß genau, wie sich das anfühlt. Wenn man das Impfzertifikat vorzeigen soll und das Smartphone in dem Moment keinen Saft mehr hat. Oder die aufsteigende Panik, wenn die Akku-Anzeige des Laptops auf null geht, bevor man die Arbeitsergebnisse des Vormittags abspeichern konnte. Geprägt haben den Begriff angeblich die ersten Nutzer des elektrischen Autos EV1 von General Motors, Anfang der 90er-Jahre. „Reichweitenangst“ bezeichnet die Furcht vor der ablaufenden Zeit.

"Einerseits bezieht sich Reichweite seit dem 19. Jahrhundert auf die Überbrückung einer Distanz, etwa bei der Reichweite des Lichtes eines Leuchtturmes oder der Reichweite von Radiowellen. Andererseits ist der Begriff ein genuin medienwissenschaftlicher Begriff: (…) Reichweite wird quantitativ zur Kenntlichmachung der Anzahl von Personen verwendet, die mittels Radio, Fernsehen oder Film erreicht werden."

Der "leere Akku" ist eine geläufige Metapher

Warum sollten wir uns mit diesem Thema überhaupt beschäftigen? Ist das nicht furchtbar öde? Unsere Alltagssprache beweist schnell das Gegenteil. Der Beitrag von Philipp Hauss erinnert daran, dass der „leere Akku“ zu einer zentralen Metapher für Erschöpfung geworden ist. Zahllose Ratgeber- und Zeitschriftentitel belegen das eindrucksvoll.
Nichts fürchten wir mehr, als dass unsere körpereigenen Energiereserven sich vorschnell erschöpfen: "Auf der einen Seite soll die Lebensdauer der Batterie als endliche Energieressource maximiert werden. Auf der anderen Seite wird eine Verbesserung der Auf- und Entladekapazitäten des Körper-Akkus angestrebt, sodass man dem Ziel einer unendlichen Verfügbarkeit von Energie näherkommt. (…) Dahinter verbirgt sich eine Entspannung, die über den bloßen Leerlauf hinausgeht und stattdessen aktiv verlorene Lebensenergie zurückgewinnt – also das Aufladen der Akkus, wie es die Wellness-Bewegung oder heutzutage das Wellness-Wochenende im Spa-Hotel beabsichtigt."
Umgekehrt sprechen wir von der „Lebensdauer“ einer Batterie. Eine neue Batterie nennen wir „frisch“. Und liefert sie keinen Strom mehr, sagen wir, sie sei „tot“. 

Verschmelzung von Maschine und Mensch

Manche Fragen, die der Sammelband thematisiert, klingen nach Science-Fiction-Stoff. Die Verschmelzung von batteriebetriebener Maschine und Mensch beispielsweise, unter den Stichworten Transhumanismus und Biohacking.
Doch in der Wirklichkeit sind wir schon längst so weit: Hörgeräte und Herzschrittmacher funktionieren nur dank langlebiger Lithium-Ionen-Batterien, wie Lisa Wiedermann zeigt. Und Diabetiker müssen ihr lebensnotwendiges Insulin nicht mehr selbst spritzen. Denn die Insulinzufuhr erfolgt über einen Katheter, eine winzige Injektionsnadel und ein externes Steuerungsgerät. Eine eingepflanzte Elektrode misst den Gewebezucker. Und ein Sender übermittelt die Daten kontinuierlich an das Smartphone oder Fitnessarmband.
Manchmal meldet das Gerät überraschend: „Batterie fast leer: bitte wechseln“. Dann wird der Begriff „Reichweitenangst“ bedrohlich konkret. Übrigens auch für Rollstuhlfahrer, wenn sie mit einem batteriebetriebenen Modell unterwegs sind. Sind größere Distanzen zurückzulegen und funktioniert der Fahrstuhl nicht zur U- oder S-Bahn, kann ein Ladebalken des Akkus darüber entscheiden, ob der Rollstuhlnutzer sein Ziel überhaupt erreicht.
Robert Stock zitiert einen Rollstuhlaktivisten, der sich gegen die verbreitete Formel wehrt, an den Rollstuhl „gefesselt“ zu sein. Er betrachte ihn als Teil seines Körpers, der ihn selbstständig mache: "Mein Rollstuhl ist für mich kein Gegenstand, sondern eine Erweiterung meines Körpers – manchmal gefühlt sogar ein Körperteil."

Saubere Energie? - Mitnichten!

Die Dozentin für Kunst- und Medientheorie Yvonne Volkhart räumt mit der Lebenslüge auf, die Digitalisierung unserer Lebenswelten sei eine immaterielle und deshalb saubere Angelegenheit. Sie begreift Batterien und Akkus, also Smartphones und Elektromobilität, als „Abfallmaschinen“.
Nicht nur, weil bei vielen Geräten zumeist der Akku als erstes Bauteil kaputtgeht und sie damit in Abfall verwandelt. Hochleistungselektronik verbraucht massenweise kostbare Rohstoffe: Seltene Erden, Lithium, Nickel, Mangan, Kobalt werden unter großen Gesundheitsrisiken abgebaut. Ihre Gewinnung hinterlässt zerstörte Landschaften. „Rohstoffproduktion ist Abfallproduktion“, schreibt Volkart, und ein Laptop oder ein Tesla seien „immer schon Abfall.“
Abfall kann nicht entsorgt werden, denn er fällt immer wieder neu ab. Abfall entsorgen heißt vielmehr, ihn in kleinere Teile verwandeln und räumlich verlagern. Und Recycling heißt, das Wenige herausholen, das sich lohnt.
Ob es wirklich wichtig ist, Batterien und Akkus als "Medien des Digitalen Zeitalters“ zu begreifen, mag man dahingestellt sein lassen. Allerdings gab es diese Debatte schon einmal, hinsichtlich des Computers. Daran erinnert Wolfgang Hagen. Computer als „Medium aller Medien“? Das erschien vielen als ausgemachter Unsinn. Sie wollten den PC allenfalls als Werkzeug gelten lassen. Informationstheoretiker hielten dagegen mit der Definition: „Wandeln, Speichern, Übertragen“. Das machen auch Batterien und Akkus – mit elektrischer Energie.
„Reichweitenangst“ ist ein interessanter Sammelband, der den Blick lenkt auf ein weithin unterschätztes Thema. 

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