Katharina Bendixen, geboren 1981 in Leipzig, schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie ist eine der Herausgeber:innen von Other Writers Need to Concentrate, ein Blog über Autor:innenschaft und Elternschaft. Sie ist Vorstandsmitglied des Sächsischen Literaturrats e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Regretting Parenthood
Die Krisen der vergangenen Jahre waren vor allem für Familien eine Zerreißprobe. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Die Erschöpfung der Eltern ernst nehmen
Lockdown, Inflation, Abstiegsängste, das hat Eltern zusätzlich belastet. Laut einer Studie bereuen 20 Prozent ihre Elternschaft. Die Autorin Katharina Bendixen fordert daher eine gesellschaftliche Debatte über mehr Solidarität und Hilfen für Familien.
Wenn mein Partner und ich mit unseren Kindern über die Pandemie sprechen, gehen unsere Erinnerungen weit auseinander. Unser kleiner Sohn war anderthalb, als die Kindergärten zum ersten Mal schlossen. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass Corona eines seiner ersten Wörter war. Unser großer Sohn ist drei Jahre älter. Für ihn sind die Lockdowns die schöne Zeit, in der er nicht in den Kindergarten gehen musste.
Eltern in der Pandemie alleingelassen
Mein Partner und ich waren damals regelmäßig verzweifelt. Wenn ich mit anderen darüber spreche, sage ich oft: „Ich bin froh, dass unsere Kinder noch im Kindergarten waren und wir sie nicht zum Homeschooling zwingen mussten.“ Ich sage: „Ich bin froh, dass mein Partner und ich die Care-Arbeit zu gleichen Teilen übernehmen“, und manchmal füge ich hinzu: „Sonst hätte ich diese Zeit nicht überlebt.“
Ich weiß, dass ich diese Formulierung nicht verwenden sollte. Denn tatsächlich sind während der Lockdowns noch mehr Frauen in ihren eigenen vier Wänden ermordet worden als sonst. Mir rutscht diese Formulierung trotzdem heraus, weil etwas in mir wirklich nicht überlebt hätte, vielleicht mein Autorinnen-Ich oder vielleicht auch nur mein Glaube an die Solidarität.
Die Eltern haben resigniert
Laut einer Studie aus dem vergangenen Jahr bereuen immer mehr Menschen ihre Elternschaft. 20 Prozent der befragten Eltern würden sich heute nicht noch einmal für ihr Kind entscheiden. Rein rechnerisch würde es fünf Kinder aus der Schulklasse meines großen Sohnes also nicht geben. Ich denke darüber nach, welche Kinder das wären. Vielleicht Emily? Am Vorlesetag hat sie mich mit Fragen zu meinen Kinderbüchern gelöchert. Vielleicht auch Richard, Etore oder Pawel. Vielleicht spüren diese Kinder das sogar. Ich denke auch darüber nach, was das Schlimmste ist, was ich während der Lockdowns zu meinen Söhnen gesagt habe. Ich glaube nicht, dass es unser Verhältnis beschädigt hat, aber wiederholen will ich es an dieser Stelle auch nicht.
Doch was bedeutet es eigentlich, dass sich ein Fünftel der Eltern in Deutschland nicht noch einmal für ihr Kind entscheiden würde? Es bedeutet, dass diese Eltern resigniert haben. Sie rechnen nicht damit, dass sich die Lage für Familien auf absehbare Zeit verbessert, und sie haben offenbar auch nicht vor, sich selbst dafür einzusetzen. Wann auch? Abends, wenn die Kinder schlafen?
Kein Tabu mehr, Elternschaft zu bereuen
Es bedeutet aber noch etwas anderes: Inzwischen ist es offenbar kein Tabu mehr, die Elternschaft zu bereuen. Das finde ich auf gewisse Weise erleichternd. Ich finde es erleichternd, weil es die Familiengründung und insbesondere die Mutterrolle von vielen Projektionen befreit. Und weil es uns zwingt, gesellschaftliche Missstände noch deutlicher zu benennen. Im besten Fall ermöglicht das Ende dieses Tabus offene Gespräche – zum Beispiel ein Gespräch darüber, was genau Regretting Parenthood eigentlich meint. Die Reuegefühle von Eltern sind wesentlich vielfältiger, als Daten und Debatten vermuten lassen.
Ich würde mir keine Gespräche über die Altenrepublik oder den Fachkräftemangel wünschen, sondern Gespräche über Menschlichkeit und Solidarität, über eine Kinderbetreuung, die weder Eltern noch Kinder als Zwang empfinden, über einen kommunalen Wohnungsbau, der Mehrgenerationenhäuser und große Wohnungen für Care-Gemeinschaften mitdenkt. Ich würde mir wünschen, dass wir uns einen Alltag ausmalen, in dem sowohl Kinderlärm als auch die Bedürfnisse von alten Menschen einen Raum bekommen.
Ich möchte mir eine Gesellschaft ausmalen, in der Kinderliebe nicht von Abstiegsängsten überdeckt wird, und nicht zuletzt müssen wir über Maßnahmen sprechen, die die Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt endlich beseitigen. Die gegenwärtigen Preisschocks sind eine weitere Belastung für viele Familien. Auch deshalb müssen wir diese Gespräche jetzt führen – damit der Anteil der Eltern, die sich gegen ihr Kind entscheiden würden, nicht noch weiter steigt.