Regisseur über "Der weiße Tiger"

Skrupelloser Aufstieg im Kastensystem

13:32 Minuten
Im Still aus "Der weiße Tiger" stehen sich zwei Figuren gegenüber.
Der Protagonist aus "Der weiße Tiger" entwickelt sich von der untersten Kaste zum Chauffeur und letztlich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann. © Netflix
Ramin Bahrani im Gespräch mit Patrick Wellinski · 16.01.2021
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Balram ist ein talentiertes Kind, das in Indien in großer Armut aufwächst und dem alle Chancen verweigert werden. In "Der weiße Tiger" erzählt Regisseur Ramin Bahrani den Aufstieg Balrams, wobei es auch um die Frage geht, ob der Zweck die Mittel heiligt.
Die Literaturverfilmung "Der weiße Tiger", der Ende Januar 2021 auf Netflix erscheint, ist wie schon der Roman eine zynisch-sarkastische Variante des "Der talentierte Mr. Ripley". Im Mittelpunkt ist der gesellschaftliche Aufstieg eines Mannes, den die Gesellschaft gar nicht möchte.
Der amerikanisch-iranische Regisseur Ramin Bahrani hat in seiner Verfilmung viel Wert daraufgelegt, die gesellschaftspolitischen Fragen des Romans zu unterstreichen. Soziale Ungerechtigkeit, die klaffende Schere zwischen Arm und Reich – alles Dinge, die auch in seiner Biografie verankert sind.
Hinzukommt, dass der Romanautor Aravind Adiga und Bahrani befreundet sind. Adiga hat den Roman sogar Bahrani gewidmet. Patrick Wellinski traf den Regisseur zum Gespräch.
Patrick Wellinski: Der Roman "Weißer Tiger" wurde ja Ihnen gewidmet. Ist das nicht auch ein gewisser Druck, das Buch eines guten Freundes zu verfilmen?
Ramin Bahrani: Ja, in gewisser Weise gibt es einen Druck. Ich wollte nicht scheitern, aber mein Verhältnis zum Roman ist sehr intensiv. Ich las bereits eine Rohfassung, begleitete die Entstehung, sprach sehr viel mit dem Autor Aravind Adiga während seiner Arbeit. Ich kannte den Text so gut und sprach so häufig mit Aranvid über die Geschichte, dass auch er ein gewisses Vertrauen in mich hatte. Er sagte: Pass auf, du hast das Recht, alles mit dem Buch zu machen, was du willst. Du kannst es kürzen, Dinge streichen, hinzufügen.
Ich vertraue dir. Und dann hatte ich diese Freiheit, die langsam belastend wurde. Es fiel mir schwer, mich von Dingen zu trennen. Allein in der Drehbucharbeit wollte ich die vielen Details und Erzählstränge nicht wegfallen lassen. Das ging mir auch im Schnitt so. Meistens ist es so, dass ich Dinge wegschneide, die nicht gelungen sind oder einfach peinlich wurden. Aber beim "Weißen Tiger" habe ich 15 Minuten opfern müssen, obwohl sie großartig waren. Aber das sind Entscheidungen, die ich treffen muss, um die straffe Erzählung nicht allzu sehr mäandern zu lassen.

"Seine Romane haben eine sehr hohe filmische Qualität"

Wellinski: Was ist das genuin Filmische am Roman? Wie würden Sie das beschreiben?
Bahrani: Aranvid und ich sind seit über 25 Jahren befreundet, und wir reden über alles, natürlich auch über Filme. Mir ist aufgefallen, dass all seine Romane eine sehr hohe filmische Qualität haben. Das können Sie allein daran sehen, wie häufig sich Produzenten um die Stoffe reißen. Sein Cricket Roman "Golden Boy" wurde in Indien bereits zu einer erfolgreichen Netflix-Miniserie, und die Filmrechte zu "Letzter Mann im Turm" und "Zwischen den Attentaten" sind auch schon vergeben.
Für den "Weißen Tiger" kann ich nur sagen, dass mich Balram, also die Hauptfigur, elektrisiert hat. Er ist schlagfertig, lustig, sarkastisch, vielschichtig und ambivalent. Er springt quasi aus dem Roman heraus. Ich wollte ihm das durch den Film ermöglichen. Balram und einige große Sequenzen waren es, die mich bewogen haben, diese Geschichte wirklich zu verfilmen.
Wellinski: Roman wie Film sind ja gespickt mit politischen Themen. Es geht um den Wunsch nach einer neuen Gesellschaftsordnung, den Aufstand einer Unterklasse gegen die herrschende Klasse. Balrams Geschichte ist daher auch ein Bildungsroman, aber einer der Politisierung. Was politisiert diesen Jungen, der ja weder eine Ausbildung genießt, noch Medien konsumiert – was macht ihn politisch? Das Leben?
Bahrani: Ich würde sagen, alles, was er erlebt hat, prägt ihn von seiner Jugend an. Er ist schon dieses besondere, clevere Kind in seinem Dorf. Er bekommt sogar ein Stipendium, was ihm den Namen weißer Tiger einbringt, also eine besondere, fast schon heilige Anomalie der Natur. Das ist Balram. Doch die ärmlichen Verhältnisse seiner Familie erlauben es nicht, dass dieser Junge eine Ausbildung bekommt. Seine Chancen für ein anderes Leben werden damit dezimiert. Darum geht es im Film. Wie ein talentierter Mensch durch die Gesellschaft, in der er lebt, keine Chance bekommt, diese Talente zu nutzen.
Es geht auch um den Wunsch Balrams, diesem Schicksal zu entfliehen, sich zu befreien und sein volles Potenzial zu entfalten. Der gesellschaftliche Aufstieg ist in Indien ans Kastensystem gebunden. Aber – und hier wird die Geschichte hier universell –, nicht nur in Indien. Gerade in unserer Gegenwart mit ihrem großen Reichtum und Wachstumsideal steigt die soziale Ungerechtigkeit. Durch die Pandemie wird das Ganze noch mal grotesk überhöht und deutlich erkennbar, wie es in der ganzen Welt um soziale Chancengleichheit bestellt ist. Die meisten Menschen kämpfen ums Existenzminimum, ums Überleben. Da bleibt keine Zeit, Potenzial zu entfalten.


Wellinski: Ist das auch der Grund, wieso Balrams Geschichte ein wenig ins Zynische kippt? Er gerät schnell in ein uraltes Dilemma: Heiligt der Zweck die Mittel?
Im Still aus "Der weiße Tiger" knien zwei Figuren zu Füßen einer Dritten.
"Der weiße Tiger" ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Aravind Adiga, der dafür mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet wurde.© Netflix
Bahrani: Ja, aber ich kann dieses Dilemma nicht beantworten. Balrams Tat verkompliziert die Geschichte. Ohne zu viel zu verraten: Er begeht ein Verbrechen. Als Regisseur kann ich das nicht beurteilen, ob das gerechtfertigt ist oder nicht. Ich erzähle es aber, um diese Frage in den Raum zu stellen und um zu zeigen, wie er an den Punkt gekommen ist. Wissen Sie, ich kannte die Inspirationsquellen von Aranvid Adiga für sein Buch. Es waren Werke wie "Sohn dieses Landes" von Richard Wright und "Der unsichtbare Mann" von Ralph Ellison – zwei der bedeutendsten US-Romane der Nachkriegszeit, geschrieben von afroamerikanischen Schriftstellern.
In beiden Romanen geht es um die existenzielle Notlage, eine harte Entscheidung zu treffen, wenn die Welt um dich herum dir deine Menschenwürde abspricht, wenn du merkst, dass du sonst keine Chance im Leben haben wirst. Aber "Der weiße Tiger" ist so viel mehr. Es ist eine wilde Reise, ein lustiges und unterhaltsames Buch, das man auch schnell an einem Wochenende lesen kann. Es ist durch das Verbrechen in zwei Teile geteilt. Und ich habe versucht, den ersten Teil besonders unterhaltsam, temporeich und lustig zu gestalten. Der Film ist an dieser Stelle schnell, wir wechseln Orte und Begegnungen. Alles geht recht flott voran. Und dann kippt das im zweiten Teil hin zu etwas Ernsterem, wenn Balrams Gedanken sich verdüstern. Aber ich habe dabei versucht, den sarkastischen Ton dieses elektrisierenden Buches beizubehalten.

"Wir unterteilten die Welt in ein Oben und ein Unten"

Wellinski: Sie haben in Indien gedreht. Was war ihr visueller Plan? Welcher visuelle Stil schwebte Ihnen vor?
Bahrani: Exakt, wir haben den ganzen Film vor Ort gedreht. Mein Kameramann kommt aus Italien, der Set Designer aus North Carolina, aber die restliche Crew war aus Indien. Die Kostümdesignerin, die Beleuchter, 99 Prozent des Teams war indisch. Das war mir wichtig. Denn so konnte ich einen hohen Grad Authentizität erzeugen. Die Herausforderung war, die epische Skala der Lebensreise unseres Helden festzuhalten.
Seine Kindheit in einem Dorf haben wir in Gelbtönen gehalten, mit Handkamera gedreht, haben ein körnigeres Bild gewählt. Dann arbeitet Balram als Diener und Chauffeur bei einer reichen Tycoon-Familie. Sie leben in einer Villa, die ist weiß, majestätisch, reich. Also haben wir entschieden, alles mit Weitwinkel-Objektiven zu drehen, haben die Kamera aufs Stativ gestellt, haben Dollyfahrten verwendet; unser kleiner Balram wird von dem Haus fast verschluckt.
In New Delhi musste alles schneller gehen. Die Stadt musste dominieren. Wir unterteilten die Welt in ein Oben und ein Unten – so wie es Robert Altman in "Gosford Park" kongenial gelungen war. Er stand Pate für den Wohnblock der Reichen. Wir dekorierten alles mit Purpur und Gold. Wir inspirierten uns an Einrichtungskatalogen für Reiche aus Indien und dem Mittleren Osten.

Das Unten sieht ganz anders aus. Balram lebt in einer höhlenartigen Garage. Wir beleuchten alles mit hässlichen neonähnlichen Lichtern. Wir haben uns dafür ein bisschen an Wong Kar-Wais Stil in "Fallen Angels" inspirieren lassen. Und am Ende von Balrams Aufstieg ist es Glas, das dominiert, ausufernde Kronleuchter, prunkvolle Tapeten. Aber auch viel Bewegung, die Aufbruch signalisieren soll und das neue Selbstbewusstsein, das in Balram entstanden ist. Er ist kein Diener mehr, sondern jemand, der selber Diener hat.


Wellinski: Für mich haben diese Ebenen gut funktioniert, auch weil sie damit ein überzeugendes, subjektives Indienbild schaffen. Wie schwer war es allerdings, als jemand, der von außen kommt, nicht ins Klischee zu fallen und damit das Leben in Indien nicht zu romantisieren. Weder die Kultur noch die Armut?
Regisseur Ramin Bahrani bei den 71. Filmfestspielen in Cannes im Mai 2018. Ein Mann mit Sonnenbrille.
Regisseur Ramin Bahrani: "Da wurde mir klar, dass ich selbst mit Balrams Geschichte aufgewachsen bin." Hier 2018 in Cannes.© picture alliance/dpa/Boesl
Bahrani: Ich bin zwar ein amerikanischer Regisseur, aber eigentlich bin ich Iraner. Ich habe drei Jahre in Iran gelebt. Mein Vater wuchs in einem ähnlichen Dorf auf, wie es Balram im Film tut. Als mein Vater diese Filmszenen sah, sprang er immer wieder von seinem Stuhl auf und rief: "Oh mein Gott! Wie in meiner Kindheit!" Er meinte, der einzige Unterschied sei, dass er nicht einen Wasserbüffel umarmte, sondern einen Esel. Und als Balram in Delhi mit dem Finger die vielen Balkone eines Wohnblocks mit dem Finger abzählt, rief mein Vater, dass er das auch gemacht habe, als er zum ersten Mal in einer Großstadt war.
Da wurde mir klar, dass ich selbst mit Balrams Geschichte aufgewachsen bin und dass mein Film sehr genau gewisse Dinge erfasst hat. Ich habe mich immer an die Beschreibungen des Buches gehalten. Sie sind brutal und realistisch. Sie waren aber auch ein Korrektiv vor Ort. Einmal waren wir früh am Set und ich bemerkte, wie mein Kameramann begann, den wunderschönen Sonnenaufgang zu filmen. Und ich musste ihm das ziemlich harsch verbieten. Ich wollte das nicht. Wir sind nicht in Indien, um schöne Postkartenmotive zu filmen. In meinem Film soll es keine netten Sonnenunteraufgänge geben. Es interessiert mich nicht. Jeder kann einen Sonnenaufgang filmen. Wir brauchen das nicht. Wir brauchen keine Romantik, weil es auch keine Romanze im Film gibt.
Er hat das verstanden. Und dann haben wir weiter probiert, den Geist des Buches wiederzugeben und die Realität der Figuren wiederzugeben. Das ist etwas, das ich in all meinen Filmen gemacht habe, ob "Chop Shop" oder "99 Homes". In "Man Push Cart" zum Beispiel wollte ich den harten Alltag eines Mannes zeigen, der kaum über die Runden kommt. Seit 2005 mache ich diese Filme, die die harten Seiten der Gegenwart in den Blick nehmen. Und – leider – identifizieren sich immer mehr Menschen mit meinen Figuren. Das spricht nicht gut von unserer Zeit. Und Covid-19 hat das alles noch stärker zutage befördert. Romantische Bilder scheinen mir da keine Lösung zu sein.

"Ich mag es, wenn gute Schauspieler improvisieren"

Wellinski: Diese Härte und Authentizität, die Sie erzeugen, ist auch ein Ergebnis ihrer Arbeitsmethode. Sie drehen immer mit einer Mischung aus professionellen und nicht-professionellen Darstellern. Wieso ist Ihnen das wichtig?
Bahrani: Ja, ich mag diese Methode, aber mir ist auch wichtig, den harten Alltag meiner Figuren mit Humor zu mischen. Sonst wären diese Geschichten nicht zu ertragen. Denken Sie doch an die Kinder aus "Chop Shop", die leben zwar auf der Müllhalde, aber sie haben Spaß und verfallen nie in Selbstmitleid. Und auch in "Der weiße Tiger" habe ich das versucht. Selbst am Ende – ohne zu viel zu verraten – schafft es Balram, einen Witz über seinen früheren Herren zu machen. Mir ist dieser Humor sehr wichtig, auch wenn es schwarzer Humor ist.
Um auf ihre Frage zurückzukommen: Meine Arbeitsmethode hat einen Grad an Unberechenbarkeit, den ich schätze. Es gibt eine Szene im Film, in der Balram auf der Straße in der Altstadt von Delhi sitzt. Ihm geht es sehr schlecht, er ist verzweifelt und wütend. Und plötzlich kommt eine alte Bettlerin zu ihm und will Geld. Und Adarsh Gourav, der den Balram sensationell spielt, kommt zu mir und will die Szene improvisieren und beginnt mir zu erzählen, was er vorhat. Aber ich unterbreche ihn und sage: ‚Hör auf, mir das zu erzählen. Geh und mach einfach.‘
Ich mag es, wenn gute Schauspieler improvisieren, aber ich will es nicht vorher wissen. Und er geht in die Szene rein und beginnt zu schreien, steigert sich rein, zieht sich sein T-Shirt aus, und beginnt dann andere Menschen auf der Straße anzubrüllen. Doch die gehörten nicht mehr zu unserem Team. Es waren ganz gewöhnliche Passanten. Selbst ein Polizist wurde angebrüllt. Der kam dann auch später zu uns und beschwerte sich, was das denn soll, dass wir hier Menschen anbrüllen. Ich liebe diese Szene, weil Adarsh damit die Welt außerhalb des Films vor die Kamera gezerrt hat. Die Szene hat so eine einzigartige Kraft.
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