Reflektierte Ostalgie als Mutmacher

06.06.2007
Reinhard Höppner, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und Präsident des diesjährigen Kirchentages, plädiert dafür, die Erfahrungen aus der DDR-Wendezeit auf die heutige Zeit zu übertragen. Ein kleiner Teil der Gesellschaft reiche aus, um eine große Veränderung zu bewirken, so Höppners optimistisches Fazit der Bürgerrechtsbewegung. Es gibt Alternativen zur Globalisierung, glaubt Höppner.
Reinhard Höppner war engagierter Laie in der evangelischen Kirche, wurde durch die Wende zum Politiker und von 1994-2002 für die SPD Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt - nun ist er wieder engagierter Christ: Als Präsident eröffnet er am Mittwoch, 6.6., den 31. Evangelischen Kirchentag in Köln. Zum Großereignis möchte er Mut zum gesellschaftlichen Wandel machen: Unter dem Titel "Versucht es doch! drei Prozent reichen, die Gesellschaft zu verändern" will er seine Erfahrungen als Christ in der DDR fruchtbar machen.

Am Umbruch in der DDR im Jahr 1989, der zum Fall der Mauer führte, waren nur drei Prozent der DDR-Bürger aktiv beteiligt. So sagt es Höppner, und er wiederholt es durch das ganze Buch hindurch:

"Man denke nur an die drei Prozent, die 1989 unsere Welt verändert haben."

Leider wird Höppner nie konkreter, wen er genau mit diesen drei Prozent meint, wie homogen zum Beispiel diese Gruppe war. Rund 500.000 Menschen - ist das der Anteil der Montagsdemonstranten an der DDR-Bevölkerung? Oder soll es die Mitgliederzahl der oppositionellen Gruppen unter dem Dach der Kirche sein?

Egal aber, was nun die Quelle dieser mysteriösen drei Prozent ist, die Zahl ist für Höppner Ausdruck der Hoffnung. Nur ein kleiner Anteil einer Gesellschaft reichte für eine so weitreichende Veränderung - deswegen ist auch heute eine Gesellschaftsveränderung möglich, denn man braucht, siehe Montagsdemo und Mauerfall, nur eine erstaunlich kleine Zahl Engagierter, um Veränderung bewirken zu können.

Reinhard Höppner wünscht sich eine Politik und Geschichte, in der die Erfahrungen der "gelernten DDR-Bürger", wie er sie nennt, mehr und gleichberechtigt zum Tragen kommen. Das seien vor allem Erfahrungen, wie man mit einem Systemwechsel fertig werden und sein Leben neu ordnen kann. Und ein grundlegendes Misstrauen gegenüber falschen Propheten und Ideologien allgemein. Wer einmal dem "Gesetz vom Sieg des Sozialismus" misstraut hat, der wird auch auf die Ideologie von der unausweichlichen Macht des Marktes nicht mehr hereinfallen, so Höppners Lieblings- und mehrfach aufgeführtes Beispiel.

Und dass der Markt nicht alles richtet, das führt Höppner dann in einem umfassenden Durchgang durch aktuelle Problemfelder der Politik vor Augen. Höppner bezieht sich immer wieder auf den Mauerfall als entscheidende Wendemarke, auch wenn er selber in seiner gewissermaßen reflektierten Ostalgie dann doch viel zurückhaltender ist, als man anfangs vermuten konnte. Es geht ihm viel mehr um eine Auseinandersetzung mit der Globalisierung, die nicht sofort von einem Gefühl der Unausweichlichkeit gelähmt ist. Und um die Frage, was Christen zu einer menschenfreundlicheren Politik beitragen können.

Der engagierte Christ und der Politiker ringen miteinander um die Redeanteile. Auf der einen Seite stellt Reinhard Höppner sein Unbehagen an politischen Entwicklungen wie zum Beispiel dem Umgang mit Erwerbsarbeit oder der Gesundheitsreform dar, und zwar ungeschminkter und kritischer, als er das als Ministerpräsident wahrscheinlich konnte.

Auf der anderen Seite bezieht er sich immer wieder auf seine christlichen Wurzeln und entwirft Perspektiven für eine Kirche, die sich aktuellen Problemen stellt, gerade beim Thema Arbeit mit deutlichen Anklängen an die EKD-Denkschrift zur Armut aus dem letzten Jahr.

Wenn Christ und Politiker zusammenkommen, ist Höppner am überzeugendsten. Das ist immer dann der Fall, wenn er zum Beispiel originelle Wendungen zu biblischen Geschichten findet. So erzählt er das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus. Der Reiche findet sich nach dem Tod in der Hölle, der Arme im Himmel. Höppner weist darauf hin, dass der Reiche seine Freunde deswegen warnen will, Lazarus aber mitnichten darum bittet, den Armen die Freuden des Himmels zu zeigen. Und von Vertrösten aufs bessere Jenseits deswegen überhaupt keine Rede sein könne.

Zum anderen wird es immer dann interessant, wenn Höppner relativ offen von seinen Erfahrungen als Politiker erzählt, auch von der Wahlniederlage, die seine politische Laufbahn erstmal beendete. Wer in die Politik geht, macht sich schuldig, wer es nicht tut, auch - das illustriert Höppner an der schwierigen Entscheidung Anfang 1990, als auch er das Gesetz passieren ließ, das die Rückgabe von zu DDR-Zeiten enteignetem Eigentum vor die Entschädigung stellte - weil es sonst nichts mit dem Westgeld für DDR-Bürger zum 1. Juli 1990 geworden wäre. "Wer ist also schuld", fragt Höppner: "Die Bürger mit ihrer Gier nach dem Westgeld oder die Politiker mit ihrem fehlenden Mut und ihrem Unvermögen, diese Sache rechtzeitig zu klären?"

Erinnerungsbuch, kirchliches Positionspapier, Buch gegen das Vergessen der DDR-Perspektive - Höppners Buch hat von allem etwas. Das ist auch das Problem des Buches. Ein bisschen fehlt der ordnende rote Faden, auch die titelgebenden drei Prozent und ihre Kraft zur Veränderung bleiben dafür zu sehr Schlagwort. Höppner stellt viele wichtige Fragen, bei den Antworten bleibt er vage. Worin er auf jeden Fall überzeugend ist, ist sein Optimismus, wenn er sagt: Auch in den Zeiten der allmächtigen Globalisierung ist der Wunsch nach Alternativen nicht absurd.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Reinhard Höppner: Versucht es doch! 3 % reichen, die Gesellschaft zu verändern
Gütersloher Verlagshaus 2007
208 S., 16,95 Euro
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