Rechte Gewalt in Magdeburg

Als Neonazis die Kneipe stürmten

Trauermarsch in Magdeburg für Torsten Lamprecht, der bei einem Überfall von Skinheads 1992 getötet wurde.
Trauermarsch in Magdeburg für Torsten Lamprecht, der bei einem Überfall von Skinheads 1992 getötet wurde. © dpa / Bernd Settnik
Von Thilo Schmidt · 09.05.2017
Vor 25 Jahren überfielen bewaffnete Neonazis in Magdeburg eine Geburtstagsparty von Punks. Die verständigte Polizei griff nicht ein. Einer der angegriffenen Gäste verstarb in Folge des Überfalls. Von den 30 Angreifern, die ermittelt werden konnten, wurde nur einer verurteilt – zu vier Jahren Haft.
Die DDR ist Vergangenheit, aber die Bundesrepublik noch nicht da. Im Vakuum aus Orientierungs-, Arbeits- und Perspektivlosigkeit setzt sich in ganz Ostdeutschland eine rechtsextreme Jugendkultur fest, die Todesopfer fordert. Äußerst brutale Neonazis, die kaum oder gar nicht sanktioniert werden.
In einem Jugendklub in Magdeburg, der als Treffpunkt der Neonazis galt, findet am 9. Mai 1992 eine folgenreiche Feier statt…
"… an der Magdeburger und Braunschweiger Naziskinheads teilgenommen haben".
… David Begrich, der sich zu der Zeit auf sein Theologie-Studium vorbereitet und in der Jungen Gemeinde aktiv ist…
"… an der Magdeburger und Braunschweiger Naziskinheads teilgenommen haben, die an irgendeinem Punkt des Abends gesagt haben: So, und jetzt wollen wir mal richtig Spaß haben, wir haben vorgeglüht, jetzt gucken wir mal, wo wir noch ein paar Zecken aufklatschen können. Und sie wussten, dass es eine Geburtstagsfeier in der Gaststätte Elbterrassen gibt, wo Punks Geburtstag feierten."
Knapp 60 Neonazis stürmen die Elbterrassen, verschaffen sich Zutritt. Mit Eisenstangen und Baseballschlägern schlagen sie auf die 30 Punks ein. Überall liegen Schwerverletzte, blutüberströmt. Eine halbe Stunde dauert der Angriff. Torsten Lamprecht, Anfang 20, überlebt ihn nicht. Er stirbt zwei Tage später an einer schweren Kopfverletzung.

"Es hätte leicht auch noch mehr Tote geben können"

Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der im späteren Prozess die verletzten Punks und die Familie von Torsten Lamprecht vertritt:
"Also, es hätte leicht auch noch ein, zwei mehr Tote geben können, und es belegte halt für uns, wie zielgerichtet die Angreifer aus Neonazi- und aus Skin-Kreisen damals vorgegangen sind. Also man hat nicht etwa in Brusthöhe oder auf die Beine gezielt, sondern man hat ganz bewusst Leute erschlagen wollen."
Was heute unvorstellbar klingt, war Anfang der Neunziger in den neuen Ländern trauriger Alltag: Der Sturm auf die Elbterrassen geschah unter den Augen der Polizei, die die ganze Zeit in der Nähe war und zuschaute. Und keine Verstärkung anforderte.

"Die Polizei sagt, sie hätten nicht die Ressourcen"

"Also die Betroffenen sagen, sie hätten mehrfach versucht, die Polizei zu erreichen, um deutlich zu machen, was hier passiert, die Polizei sagt, sie hätten gar nicht die Ressourcen gehabt, sich dieser Gruppe adäquat entgegenzustellen. Und das war damals keine Ausnahmesituation, sondern die Regel. Jedes einzelne Wochenende Alltag."
Ein Fernsehteam von "Spiegel TV" interviewte wenige Tage nach dem Angriff den Wirt der Elbterrassen, der ebenfalls die Polizei vergeblich zum Einschreiten aufforderte.
"Und ein kurzer Blick genügte. Hier unten, an dieser Ecke hat ein Mädchen gelegen, total überblutet. Und dann hab ich den angesprochen, und hab gesagt: Ich bitte darum. weil ich auf der anderen Seite der Straße gesehen hatte, dass Polizeifahrzeuge da stehen. Ich bitte darum, dass eingegriffen wird, da verbluten Leute. Und da wurde mir denn klipp und klar geantwortet, wir sind zu wenig Leute, wir warten auf Verstärkung. Wir greifen nicht ein."
Die Magdeburger Punks…
"Mein Gott. man sagt Punks, ja, he, das waren, hey, auf eine Weise etwas unangepasstere Jugendliche, die die Haare etwas gefärbt hatten und eine Lederjacke anhatten."
Die Magdeburger Punks hatten außerhalb ihres Jugendklubs und einigen wenigen Kneipen - dazu zählten die Elbterrassen - kaum Orte, an denen sie sich ungestört treffen konnten. Schon ein Schritt nach draußen bedeutete Gefahr.
"Spiegel TV" besuchte die schwer verletzten Opfer des Elbterrassen-Überfalls im Krankenhaus.
"Das ist vielleicht so ein Sport von denen. Dass die irgendwo in einer Runde sitzen und feiern, und dann kommt einer von denen auf die Idee, ach, ich weiß, wo ein Punk wohnt, und dann besuchen wir den dann mal. Und dann fahren sie dort vorbei, treten die Tür ein, schlagen den total kaputt und hauen wieder ab."

Rechte Gewalt meist nicht sanktioniert

Die Polizei in ganz Ostdeutschland war nicht in der Lage, zu sehen, welches Gewaltpotenzial sich in der rechten Szene zusammengebraut hatte. Oder wollten sie es nicht sehen? Diejenigen im Polizeiapparat, die davor warnten, wurden ruhiggestellt, sagt David Begrich, der heute in der Magdeburger "Arbeitsstelle Rechtsextremismus" des Netzwerks für Demokratie und Weltoffenheit arbeitet.
"Weil, diese rechtsextreme Bewegung, die da sehr schnell nach 1990 mit großer Gewalt sich Gehör verschaffte, eine Erfahrung gemacht hat. Nämlich die Erfahrung gemacht hat, dass die Gewalt, die sie ausübt, keine Sanktionen erfährt. Dann ist das ja sozusagen eine geheime Botschaft an die Generation Hoyerswerda."
Wolfgang Kaleck, der westdeutsche Rechtsanwalt, macht gerade seine ersten beruflichen Schritte in seiner Kanzlei im "Haus der Demokratie und Menschenrechte" in Berlin. Von Aufbruchsstimmung und kritischem Geist der Wende findet er in Magdeburg nichts. Stattdessen einen "desolaten gesellschaftlichen Zustand", durch den Menschen auf der Strecke bleiben.

"Die Aufklärung wurde verhindert"

"Die Punks waren ein Stück weit abgestumpft, weil die so oft auf die Fresse bekommen haben, die sind so oft verprügelt worden. Und die haben so wenig Unterstützung von Polizei und auch von anderen Institutionen bekommen, die haben das fast ein Stück weit als ihre Realität hingenommen."
30 der etwa 60 Neonazis, die an dem Angriff auf die Elbterrassen beteiligt waren, konnten ermittelt werden. Gegen 18 von ihnen wird Anklage erhoben.
"Die Aufklärung wurde verhindert natürlich durch die - ich sag mal, also man kann es noch nicht mal amateurhaft nennen, also damit würde man Amateuren zu nahe treten. Also weil Amateurfußballer haben immerhin einen bestimmten Standard. Aber die Polizei von Magdeburg hat damals überhaupt keinen Standard gehabt. Es ist ja nicht nur so gewesen, dass die vor Ort waren und nicht eingegriffen haben, sondern sie wussten ja auch danach, wo die Täter hingefahren sind. Die haben ja eine Siegesfeier veranstaltet. Das wissen wir aus mehreren Zeugenaussagen von Tatbeteiligten, dass man danach in einen bekannten Klub gefahren ist und dort eine Siegesfeier veranstaltet hat."

Polizisten und Skinheads pflegten "eher so ein kumpelhaftes Verhältnis"

… bei der Spuren hätten gesichert werden können, Waffen beschlagnahmt werden können, mögliche Täter hätten befragt werden können. All das ist unterblieben, sagt Rechtsanwalt Kaleck. Und das ist im Übrigen kein rein ostdeutsches Problem, denn Führungspositionen in Polizei und Justiz waren – in ganz Ostdeutschland – längst mit Beamten aus den alten Bundesländern besetzt.
"Und das hat sich ja danach dann noch in dem Gerichtsverfahren immer wieder gespiegelt: Wenn wir mit unseren Mandanten, den Punks, den Gerichtssaal betreten haben, dann wurden wir behandelt, als wenn die Punks diejenigen waren, die Gewalttaten verdächtigt wurden. Die wurden als die Störenfriede, als die Unruhestifter behandelt, während Wachtmeister und Polizisten eher so ein kumpelhaftes Verhältnis mit den Skinheads pflegten. Und das fanden wir schon sehr erschreckend."
Prozess wegen des Skinhead-Angriffs auf die Magdeburger Gaststätte "Elbterrassen". Ein Sicherheitsbeamte durchsucht jugendliche Prozess-Besucher.
Ein Sicherheitsbeamte durchsucht jugendliche Prozess-Besucher.© dpa / Peter Förster
Nur einer der 60 Angreifer muss ins Gefängnis, für vier Jahre – wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung. Vier Mitangeklagte erhalten Bewährungsstrafen. Wer Torsten Lamprecht getötet hat, konnte das Gericht nicht feststellen. Aber ohne Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, sagen Beteiligte, wäre es zu dem Gerichtsverfahren überhaupt nicht gekommen.
"Also, die haben wirklich nicht zu Unrecht gedacht: Die sind ohnehin alle gegen uns, und warum sollen wir uns mit Polizeibeamten, mit Staatsanwälten überhaupt beschäftigen. Wenn die hören, was uns passiert, dann zucken die mit den Achseln, und nächsten Samstag geht es weiter. Und so war es dann auch."
Ein Straßenschild in Magdeburg erinnert an Torsten Lamprecht, der von Skinheads zu Tode geprügelt wurde.
Ein Straßenschild in Magdeburg erinnert an Torsten Lamprecht, der von Skinheads zu Tode geprügelt wurde.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Die Elbterrassen gibt es nicht mehr. Das Grundstück, auf dem sich Gaststätte und Biergarten befanden, wurde den Neubauten zugeschlagen, die hier errichtet wurden. Der Blick fällt auf den Rotehornpark auf dem Magdeburger Werder. Direkt unterhalb plätschert wie damals der "Wasserfall", ein Wehr, das den Altarm der Elbe aufstaut. Ein kleiner Fußweg heißt seit vier Jahren "Torsten-Lamprecht-Weg".

Erneut rechte Gewalttaten in Magdeburg

"Auch das war schwierig, das im Stadtrat durchzusetzen und zu sagen: Wir stehen zu diesem Teil der Geschichte. Aber das war, glaube ich, ein sehr, sehr wichtiger Schritt."
David Begrich:
"Und dennoch muss man ja die Frage stellen: Wie findet man einen guten Umgang mit den Schattenseiten der Stadtgeschichte? Da sind wir eigentlich ganz am Anfang. Da gibt es sozusagen verschiedene Akteure, die dazu verschiedene Auffassungen haben. Und der nächste Schritt wäre, zu sagen: Gut, wo hat das seinen Ort in der, ich sag jetzt mal, Erinnerungskultur einer Stadt. Und da sind wir noch nicht."
Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Sturm auf die Elbterrassen ereignen sich in Magdeburg erneut schwere Ausschreitungen. Bei den sogenannten "Himmelfahrtskrawallen" jagen Neonazis eine Gruppe von Schwarzafrikanern stundenlang durch die Magdeburger Innenstadt. Wieder greift die Polizei zögerlich und viel zu spät ein. Einzelne Beamte sympathisieren mit den Neonazis. Der Polizeipräsident, nach der Wende aus Niedersachsen nach Magdeburg abberufen, erklärt die Ausschreitungen mit einem unglücklichen Zusammentreffen von "Sonne und Alkohol".
Im Februar 1997 wird der 16-jährige Punk Frank Böttcher im Stadtteil Neu-Olvenstedt von Neonazis zu Boden gerissen, mit Messerstichen und Tritten gegen den Kopf traktiert. Er ist sofort tot.
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