Recht laut und mittelalterlich, bitte

Von Frieder Reininghaus |
Am Theater Bonn wird in Sammelduschen geduscht, ein Lamm ausgenommen und unliebsamen Künstlern das Herz aus der Brust geschnitten. Die Inszenierung von George Benjamins Oper "Written on Skin" ist mittelalterlich und monströs. Leider kommt die Musik etwas zu kurz.
Nach der langen und gegen Ende wieder ziemlich erfolgreichen Ära von Generalintendant Klaus Weise in Bonn hat die Bundesstadt ab dieser Spielzeit einen neuen Theaterdirektor: Bernhard Helmich aus Idar-Oberstein. Der begann 1992 als Dramaturg am Theater Trier, war dann in Bielefeld und Dortmund tätig, 2001–05 als Chefdramaturg der Oper Leipzig und seitdem als Intendant in Chemnitz. Dort sorgte er acht Jahre lang für ziemlich viel leichte Kost. Drei oder vier Produktionen fanden eine gewisse überregionale Resonanz, z.B. zwei Inszenierungen Dietrich Hilsdorf – Prokofjews turbulente "Liebe zu den drei Orangen" und "Love and Other Demons" von Peter Eötvös (freilich ist Hilsdorf auch in Wiesbaden und Essen emsig zu Gange und war es gleichfalls in Bonn).

Um den dort eher gedämpften Erwartungen entgegenzuwirken, ließ Helmich seine erste Spielzeit mit einem noch fast druckfrischen Werk eröffnen – mit "Written on Skin" des englischen Dirigenten und Messiaens-Schüler George Benjamin. Dessen bislang einzige Oper wurde im vergangenen Sommer beim Festival in Aix-en-Provence unter Regie von Katie Mitchell uraufgeführt und seitdem in europäischen Metropolen herumgereicht (die Messlatte war also demonstrativ hoch gehängt).

Das Theater Bonn vertraute den Gegenentwurf einem jungen ungarischen Regie- und Ausstattungs-Team an: Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka wurden auch in Coburg und Gießen bereits erprobt und versprachen frischen Wind in den alten Segeln, von denen sich Benjamins Tonsatz blähen ließ und mit denen die auf einer anonymen Troubadour-Dichtung beruhende Handlung vorpreschte. Denn mittelalterliche Aura steht ja derzeit in Teilen des Literaturbetriebs und der Filmindustrie in hohem Kurs. "Written on Skin" basiert auf einem razó des 13. Jahrhunderts, der in chorische Sentenzen mit Modernismen und Dialoge mit altertümelndem Kolorit übersetzt wurde. Letztere befleißigen sich der indirekten Rede, wie dies heute noch Siebenjährige praktizieren. Das unterstreicht die Kindheitsmuster der Buch-, Mal- und Theaterkünste des hochgotischen Zeitalters, die Benjamins Oper Pate standen.

Die okzitanische Ballade erzählt von einem Landlord und Militärmachthaber, der sich mit der schönen Agnès eine vierzehnjährige Frau hält und einen jungen Maler in seinen Haushalt aufnimmt. Diesen beauftragt er, ihn und seine guten Werke in einem Buch zu verewigen. Agnès wird bald neugierig und es entbrennt heftige Liebe, die alles gewährt, was zuvor erpresst wurde. Der Protektor wird misstrauisch und bringt den naiven Künstler um. Er schneidet ihm das Herz aus der Brust und bereitet es als letztes Abendmahl für Agnès zu.

Anders als Katie Mitchel, die vor einem Jahr in einer gespaltenen zweistöckigen Bühneninstallation die changierenden Übergänge zwischen einer heutigen Theatergarderobe und dem mittelalterlichen Herrenhaus des namenlosen Protektors als Szenarium für einen Krimi nutzte, verzichten Magdolna Parditka und Alexandra Szemerédy auf optische Polarisierung. Sie pointieren keine Kontraste zwischen moderner und mittelalterlicher Welt. Ein Rudel Engel zieht nach den Eingangssequenzen, die die Wiederkehr mittelalterlicher Produktions- und Gesellschaftsformen fordern, eine Plane weg, die vor einer Bruchsteinmauer aufgespannt worden war. So etwas wie ein Bunkerraum kommt zum Vorschein. Unter ihm etliche Haushaltsgeräte älterer Bauart, die auf Entsorgung warten. Im Bunker-Plateau hält der Protektor seine Agnès an einer goldenen Hundekette. Ganz links vorn ein Agnus dei in einem Aquarium, das Luftblasen aufsteigen lassen kann (man mag dies für die Transsubstantiation des Heiligen Geists erachten).

Als hätte das Produktionsteam der Handlung und der Musik nicht getraut, sorgte es dafür, dass ständig was los ist auf der vollgepferchten Bühne. Da wird in einer Sammeldusche geduscht, ein Lamm ausgenommen und auch sonst etwas Blut vergossen; es werden Leichen weggetragen, aber auch Kinder geboren und am Fließband abtransportiert. Mit dem mittelalterlichen Hintergrund der Dichtung und Handlung hat die Inszenierung erkennbar nichts im Sinn. Sie bleibt mit ihrer geschäftigen Vermüllung und partiellen Verhässlichung auf eine Weise dekorativ, die stark an Bühnenmoden in den osteuropäischen 80er Jahren erinnert. Offensichtlich wird Theatergerümpel der Vorwendezeit, das den Anforderungen eines merkwürdig travestierten "Realismus" und einer absurden "Volkstümlichkeit" entsprach, nun mit nostalgischer Lust an die Wessis gebracht.

Der neue Bonner GMD Hendrik Vestmann sah im Vergleich zu George Benjamin, der im letzten Jahr die Uraufführung mit einem exzellenten Orchester bestreiten konnte, weniger vorteilhaft aus: Die Melange der Anleihen aus verschiedenen Zonen der Moderne mit Spolien ganz alter Musik und Bezugnahmen aufs barocke Oratorium, die in Aix relativ luzide geklungen hatte, wirkte nun beim Beethoven Orchester Bonn gröber und unzusammenhängender (insgesamt muss mit dieser Kapelle wohl wieder gründlich und solide studiert werden). Miriam Clark wurde mit großer Leidensmiene inszeniert – mit Frauenpower bricht sie für eine Nacht aus dem Eheknast aus. Clark singt mit reichlich Vibrato und hörbar angestrengt, scheint auch in Tonarten, die der Tonalität enthoben sind, weniger zuhause zu sein. Als schon geraume Zeit leidende Lebenspartnerin entwickelt sie allerdings auf plausible Weise Glaubwürdigkeit.

Evez Abdulla, der Bonner Protektor, gibt einen Macho, der es vom Türsteher zum Geschäftsmann gebracht hat. Dem kräftigen Körperbau entspricht die kraftvoll-gebieterische Stimme, die das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand zu geben verspricht. Terry Wey, der Counter, ist der erste Engel und in überzeugender Weise der schüchterne junge Maler zugleich, der von Agnès in ihrer Unerfülltheit und Langeweile verführt. Er vollendet sein meisterhaft ausgeziertes Buch und schreibt, in Anspielung auf die Apokalypse des Johannes, mit großen Lettern die Frage an die Wand, wer denn würdig sei, es zu öffnen.

Fazit: Der handwerklich gediegenen Musik von George Benjamin wurde in Bonn insgesamt nicht die nötige und mögliche Aufmerksamkeit gezollt. Auch das Spannungsverhältnis zwischen den offensichtlich heute wieder im Theater präsenten Engeln und dem diabolischen Morden des monströsen mittelalterlichen Mannes wurde theatral nur unzureichend genutzt. Die Bonner Skepsis in Bezug auf die Berufung des bislang so wenig positiv profilierten Theaterleiters Bernhard Helmich wurde durch die Eröffnungspremiere nicht zerstreut. Aber das kann, bei fortgesetztem straffem Sparkurs, ja noch folgen.
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