Rebekka Reinhard über "Wach denken"

Weg von der Computerlogik

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Illustration eines lesenden Mädchens mit aufgeklapptem Kopf, aus dem ein verknäulter Faden fliegt.
Rebekka Reinhard glaubt, unser Denken nähere sich zu stark der binären Informationsverarbeitung von Computern an. © Getty Images / Malte Mueller
Moderation: Joachim Scholl · 30.12.2020
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Rebekka Reinhard hat ein Problem in der Gesellschaft erkannt: Es werde nur noch binär gedacht, für den Raum dazwischen sei kein Platz mehr. Deshalb plädiert die Philosophin in ihrem neuen Buch „Wach denken“ für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch.
Joachim Scholl: Rebekka Reinhard ist eine promovierte und umtriebig praktische Philosophin. Sie tritt vor großen Unternehmen auf, betreibt ein Blog, gehört als stellvertretende Chefin zum Philosophiemagazin "Hohe Luft" und schreibt Bestseller mit so hübschen Titeln wie "Würde Platon Prada tragen?" oder "Odysseus und die Kunst des Irrens". Jetzt allerdings plädiert sie in ihrem jüngsten Buch für "Wach denken" für einen "zeitgemäßen Vernunftgebrauch". Fangen wir mit der Diagnose an, Frau Reinhard. Sie konstatieren eine Verblödung der Vernunft, die uns mehr sorgen sollte als die übliche Dummheit. Was hat denn unseren Verstand so blöde gemacht?
Rebekka Reinhard: Meine These ist, dass es auf jeden Fall zu tun hat mit unserem ganzen digitalen Leben. Und ich nenne diese verblödete Vernunft natürlich eine paradoxe Formulierung, deshalb auch Computerlogik. Eben deswegen, weil ich meine, dass die verblödete Vernunft doch eher eine gewisse Familienähnlichkeit aufweist mit der binären, digitalen Informationsverarbeitung von Computern.
Porträt von Rebekka Reinhard.
Wir sollten eine progressive Universalpoesie für unser Zeitalter neu entdecken, rät Rebekka Reinhard.© Imago / photothek / Michael Gottschalk
Ich nenne die Computerlogik – noch einmal ganz kurz definiert – ein Denken, das Vieldeutigkeit in Eindeutigkeit übersetzt und nur zwei Zustände zulässt. Das widerspruchsfreie Entweder/Oder. Und ich glaube, dass es tatsächlich eines der großen Probleme unserer Zeit ist.
Scholl: Ihr Gegensatz dazu heißt "Dumpfwach". Also die Logik von Null und Eins ist die dumpfe Logik, und der stellen Sie das wache Denken gegenüber. Was heißt das genau?

Wir leben in einer Umbruchzeit

Reinhard: Das haben Sie jetzt schön formuliert. Es ist natürlich so, dass ich mir durchaus bewusst bin, wenn ich auch wiederum einen Gegensatz konstruiere, dass ich einen performativen Selbstwiderspruch begehe. Aber ich denke, anders kann ich das didaktisch nicht rüberbringen.
Ich meine tatsächlich, dass wir mehr vom wachen Denken bräuchten in dem Sinne, dass wir in einer sehr unübersichtlichen Umbruchzeit leben. Wir brauchen tatsächlich mehr Herz, mehr Emotion. Wir müssen mehr versuchen – das soll jetzt nicht esoterisch klingen – aber ich denke tatsächlich, wir müssen mehr lernen, auch mit der Seele zu sehen und zu denken, weil wir sonst eingehen. Sonst ist es alles zu eng in unserem Hirn.
Scholl: Jetzt sind Sie schon mittenmang in der Therapie, Frau Reinhard. Hier fällt sofort auf, dass Sie einen Begriff, den man eher aus der Psychopathologie kennt, ganz positiv besetzen, nämlich den Begriff der "Angstlust". Der sollen wir uns stellen, und die sollen wir ganz praktischen nutzen. Wie denn?

Angstlust aktiv leben

Reinhard: Angstlust ist tatsächlich ein Begriff aus der Psychiatrie. Er wird üblicherweise auch im Kontext von Borderline-Erkrankungen und so weiter benutzt. Ich eigne mir ihn sozusagen ganz frech an und behaupte, dass es tatsächlich eben ein Gefühl ist, das Lust machen kann, das Spannende am Leben neu zu entdecken. Es ist ja auch wiederum ein paradoxes, ein widersprüchliches Gefühl.
Die Angst macht eng. Die Lust hingegen ist etwas, das befreit, das einen nach oben zieht, das auch ermutigt, viele Dinge neu anzugehen. Und ich meine: statt uns von Angstlust nur berieseln und sedieren zu lassen, so wie wir das ja auch zum Beispiel tun, wenn wir endlos Serien streamen, wo was wahnsinnig Spannendes passiert und wir sind aber nur die Zuschauer.
Ich meine, dass es wichtig ist, sozusagen diese Angstlust wirklich aktiv zu leben und dann tatsächlich vielleicht in die Lage zu kommen, den Thrill des Lebens zu genießen. Mit einer vollkommen anderen Haltung, als dem bisherigen Entweder/Oder-Schmarrn durch die Welt zu gehen.

Eine neue Universalpoesie

Scholl: Dass die Welt nicht mehr mit entweder/oder agiert und auch nicht nur schwarz oder weiß ist, sondern eigentlich grau, das ist aber doch eigentlich Common Sense, nah an der Plattitüde sogar. Und Sie setzen hier jetzt ganz stark auf künstlerische Einschüsse. Zum Beispiel das Absurde. Wie kann uns das denn wacher denken lassen?
Reinhard: Natürlich ist es eine Plattitüde zu sagen: Ist doch klar, Leben ist aus Graustufen gemacht. Es gibt immer wieder Überraschungen im Leben und so weiter. Ich glaube nur, dass wir das ein bisschen verlernt haben, tatsächlich auch zu schätzen, dass eben dieses Leben, wie wir Philosophen sagen, kontingent ist – immer unvorhersehbar, immer unübersichtlich. Im Guten wie im Schlechten.
Ich möchte dafür plädieren, so etwas wie Schlegel es damals nannte, eine progressive Universalpoesie für unser Zeitalter neu zu entdecken. Wir sehen das ja, dass die Realität für uns mittlerweile teilweise so irreal, surreal anmutet, dass wir wirklich das Gefühl haben, dass Literatur, dass Science Fiction, dass die Künste viel besser beschreiben können, was da eigentlich los ist auf diesem Planeten, als es Nachrichtensendungen können.
Im Sinne von einer neuen Universalpoesie ist es wichtig, Dinge wieder neu durchzumischen. Das heißt, das Absurde im Nützlichen auch mal zu entdecken. Das Irrsinnige im Vernünftigen. Das Emotionale im Verstandesmäßigen. Und vielleicht sogar für Fortgeschrittene: das Interessante im Problematischen.

"Wir vergessen, dass sich morgen alles ändert"

Scholl: Da war ich sehr verblüfft, bei diesen Passagen. Sie sind ja von Haus aus Philosophin. Aber interessanterweise finden Sie eben vor allem in der Literatur die geistigen Gewährsmänner für dieses Konzept von "Wach denken". Den Schlegel haben Sie schon erwähnt, die Frühromantik bei Novalis und der Universalpoesie der Frühromantiker. Sie zitieren auch ausführlich Franz Kafka. Stichwort: das Absurde. Wo liegt denn hier der Gewinn? Bei dem kriegt man doch eher Albträume.
Reinhard: Auch das ist natürlich wieder eine Frage der Haltung. Also warum macht uns denn eine Erzählung wie "Die Verwandlung" Angst? Warum finden wir das komisch, unheimlich, absurd? Weil wir oft erwarten, dass das Leben so und so zu sein hat. Dass es normal sein soll. Wir vergessen aber, dass sich morgen alles ändert.
Mir geht es wirklich darum, in dem Buch und auch mit dem Sound, wie das Buch geschrieben ist, aufzuwecken. Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Aber dazwischen ereignet sich was wunderbar Geheimnisvolles, und das ist unsere Existenz.

Die Aufklärung allein reicht nicht

Sie sagen zu Recht: Ich habe viele Inspirationen aus der Literatur und aus den Künsten. Ich habe tatsächlich als Philosophin viel praktische Erfahrungen, habe lange auch ehrenamtlich im klinischen Bereich mit stationären Psychiatrie- und Onkologie-Patienten philosophiert und da wirklich gelernt, dass diese klassische westliche Identitäts- und Subjektphilosophie – die Aufklärung – die uns weismacht, dass es einen Fortschritt gibt im Denken, wenn wir nur logisch genug sind, dass die eben ganz bestimmt zu einem gewissen Punkt führen kann. Aber dann kommt die große Ratlosigkeit.
Das ist immer dann, wenn das Leben sich eben von seiner crazy Seite zeigt und da brauchen wir mehr. Deswegen eben mein Plädoyer: Schauen wir doch mal in andere Bereiche, wo wir jetzt unsere Ressourcen, wo wir jetzt etwas herkriegen können, das uns stärkt in diesen Zeiten.

Ein Philosophiebuch mit Begleit-Playlist

Scholl: Apropos crazy Seite des Lebens: Sie haben ihr Buch vor Corona zu schreiben begonnen, waren mittendrin, als es losging mit der Pandemie. Das hat, schreiben Sie, noch mal einen Extraschub gegeben. War das hier auch ein Brennglas für dumpf und wach denken?
Reinhard: Absolut. Corona hat alles wie unter der Lupe deutlich gemacht, was in unserer Gesellschaft, was in unseren Institutionen, was vor allen Dingen im menschlichen Miteinander nicht mehr so ganz richtig tickt und was zu starr geworden ist.
Scholl: Am Ende ihres Buches veröffentlichen Sie eine Playlist, von Pink Floyds "Comfortably Numb" bis Doris Days "Que Sera Sera". Große Existenzmelancholie würde ich das mal nennen. Wie kamen Sie denn auf diese Liste?
Reinhard: Das sind Songs, die mich eigentlich ein Leben lang teilweise schon begleiten. Ich bin ein großer Jazzfan und mir ging es einfach darum, für jedes Kapitel einen Rhythmus zu kriegen, vielleicht auch noch über die Satzmelodie hinaus, die wirklich befreit. Einen also weggehen lässt vom reinen Tiefen und hin zu dem, was ich Emotion, Seele oder auch Angstlust oder vielleicht sogar auch Liebe nennen möchte.

Explizit feministisch

Scholl: Sie verstehen Ihr Buch auch als entschieden feministisch. Was wollen Sie denn damit sagen so offensiv?
Reinhard: Eigentlich gar nicht so viel. Ich glaube einfach, dass es eine wunderbare Gelegenheit ist, so ein Buch schreiben zu dürfen, das ein bisschen ein Debattenbeitrag sein möchte, mal wieder zu erinnern – vor allen Dingen die Frauen daran zu erinnern – den Mund aufzumachen: Wirklich zu sehen: Wir haben jetzt viele Chancen. Wir können auch den Logos, die Redemacht, für uns beanspruchen. Und wir haben jetzt eben mehr denn je die Chancen von allen – und deswegen adressiere ich nicht explizit auch noch die Männer mit – tatsächlich anerkannt zu werden in Themen, in denen wir uns auskennen. Themen, die nicht unbedingt immer nur mit Frauenthemen zu tun haben müssen.

Rebekka Reinhard: "Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch"
Edition Körber, 2020
200 Seiten, 20 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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