Reaction Videos zu Musikclips

"Eine Art improvisierte Kritik"

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In einem sogenannten reaction-Video kritisiert der Musikproduzent Joey Nato auf seiner youtube-Plattform die Musik von Lil Nas X - MONTERO.
Reaction Videos, wie hier von Musikproduzent Joey Nato über Lil Nas X, sind nicht nur unterhaltsam, sondern auch eine Form der Kunstkritik, meint Annekathrin Kohout. © Screenshot Youtube / Joey Nato
Annekathrin Kohout im Gespräch mit Oliver Schwesig · 04.05.2021
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Gefilmte spontane Reaktionen auf einen Musikclip – das sind Reaction Videos. Einige erreichen ein riesiges Publikum, wie etwa die zu „Montero“ des US-Rappers Lil Nas X. Manches davon sei durchaus Musikkritik, sagt Medienforscherin Annekathrin Kohout.
Menschen sitzen vor der Kamera und sehen zum ersten Mal eine Filmszene oder die Folge einer Serie oder ein Musikvideo – und ihre mehr oder weniger spontanen Reaktionen werden gefilmt. Diese Reaction Videos tauchen dann zum Beispiel bei Youtube auf – und werden oft millionenfach geklickt.
Ein Musikvideo, auf das besonders viel reagiert wird, ist das Video zum Song "Montero" des US-Rappers Lil Nas X. Da gibt es beispielsweise ein Video, in dem mexikanische Mütter auf das Musikvideo reagieren.
Außerdem gibt es zahlreiche andere Menschen, die auf diesen Musikclip reagieren: Priester, Eltern, Musikprofis wie beispielsweise ein Musikproduzent.
Diese Reaction Videos sind jedoch nicht nur unterhaltsam, sondern auch eine neue Form der Kunstkritik, schreibt die Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout in einem Essay.

Parallelen zu klassischer Musikkritik

Es gebe zwei Grundformen von Reaction Videos: In der einen stehe eine eher laienhafte Reaktion im Mittelpunkt von jemandem, der sich mit dem, was er da anschaut, nicht auskennt.
Dann gebe es aber auch Videos, in denen professionelle Reaktionen zu sehen sind. Wenn zum Beispiel Berufsmusikerinnen aufeinander reagierten, oder ein Musikproduzent auf ein Musikvideo.
Bei diesen professionellen Reaktionen könne man durchaus von Kritik sprechen, sagt Kohout. "Weil einiges passiert, was man auch sonst von Kritik kennt – wenn auch spontan." Es werde etwas eingeordnet, verglichen, es werde kontextualisiert. Es würden Interpretationsversuche angestellt – aber nicht unbedingt zu Ende gebracht.
Auf den ersten Blick unterschieden sich Reaction Videos stark von klassischer Musikkritik, erklärt Kohout. "Von einer klassischen Kritik wünscht man sich ja erst mal eine distanziert-objektive Betrachtung." Wichtig sei dabei auch, dass man nicht in die kritisierte Realität verstrickt ist.

Zu wenig Distanz für Kritik?

Reaction Videos seien im Vergleich dazu erst einmal distanzlos. Zwischen Betrachtung und Bewertung vergingen höchstens ein paar Sekunden. Da würde man sagen, man ist nicht kritikfähig in dem Moment, meint Kohout.
"Aber ich habe festgestellt, dass die Vorgänge, auch die Emotionen, die Affekte, die man hat, während man das betrachtet, die sind gar nicht immer so undurchdacht, und die sind auch gar nicht immer so gestaltlos. Oft werden sogar, ganz im Gegenteil, mithilfe von Mimik und Gestik auch diese Reaktionen auf eine Art designt. Und darin sehe ich durchaus eine Art von improvisierter Kritik. Improvisation könne ja durchaus auch ein gesellschaftskritisches Format sein", sagt die Medienwissenschaftlerin.
(abr)
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