Rathjen übers Radfahren

"Das Fahrrad ist so etwas wie der letzte Keim von Glück"

Blick eines Radfahrers bei einer Tour auf einem Deich bei Norderney.
Radtour auf dem Deich: Bei Übersetzungsproblemen längere Strecken. © Jochen Tack / Imago
Von Nadja Bascheck · 07.02.2018
In "Beinarbeit, Kopfarbeit" rückt der Übersetzer Eberhard Rathjen die Verbindungen von Literatur und Radfahren in den Blick. In jungen Jahren hat er diese selbst auf einer Tour durch Irland erfahren. Rathjen erklärt, wofür das Fahrrad bei Beckett steht.
"Das ist Ihr Fahrrad hier?"
Friedhelm Rathjen antwortet mit:
"Das nehm ich, genau. Das hab ich zum 50. geschenkt bekommen, inzwischen droht man mir schon zum 60. ein neues an, haha. Das will ich nicht. Die Witterung und die Bodenbeschaffenheit sind natürlich so, wie das Fahrrad aussieht."
Autor und Übersetzer Friedhelm Rathjen macht während einer Radtour Pause
Friedhelm Rathjen: Kurze Pause auf der Tour© Nadja Bascheck
Verkrusteter Schlamm klebt am Rahmen des anthrazitfarbenen Herrenrads. Jeden Tag fährt Friedhelm Rathjen damit die nordfriesischen Wege am Meer entlang – bei Regen und Wind. Erst ab Windstärke 9 werde es schwierig, findet er.
Ich schlage vor, loszufahren:
"Gut, und jetzt fahren wir gemeinsam hier mal den Deich entlang?!"
Rathjen ist sofort dabei:
"Wir können rüberfahren übern Deich und vielleicht fahren wir erstmal in die Richtung, Richtung Norden, was ja nach Kälte klingt, aber da haben wir den Wind von hinten, dann müssen wir allerdings gegen den Wind zurück."

Mit den Rädern auf dem Deich

Wir fahren am Deich entlang, das Meer brandet ans Ufer. Es ist heute grau und trüb – wie der wolkenverhangene Himmel.
Der Wind pfeift unter meinem Stirnband durch in die Ohren.
"Was schätzen Sie, welche Windstärke haben wir?"
Rathjen sagt:
"Das ist nicht so dolle, sieben würde ich sagen."
Kurze Pause in einem hölzernen Unterstand, Schutz vor dem tosenden Wind. Der Blick geht weit über Wiesen und Felder, die vom Dauerregen der letzten Monate geflutet sind. Von hier aus sind es nur 20 Kilometer nach Dänemark.

Bei Übersetzungsproblemen aufs Rad

Manchmal überquert Friedhelm Rathjen die Grenze, wenn er radelt:
"Mindestpensum ist eine Stunde, also 20 Kilometer, im Sommer kommen auch schon 60, 70, 80, 90 Kilometer zusammen, wenn ich gerade gut bei Laune bin oder wenn ich ein Übersetzungsproblem hab, das ich lösen will."
Seit knapp 30 Jahren ist Rathjen als Übersetzer tätig. Herman Melville und Mark Twain hat er ins Deutsche übertragen, über James Joyce und Samuel Beckett hat er sogar Biografien geschrieben.
Wenn er mal nicht weiter weiß, setzt er sich aufs Rad und lässt die Gedanken schweifen. In seinem neuen Buch beschreibt er, wie man beim Fahrradfahren dem Rhythmus von Gedichten nachspüren kann. Oder man wird gleich selbst zum Dichter.
Rathjen beginnt jetzt rhythmisch:
"Ich trete auf der Stelle, immer wieder auf der Stelle, trete immer wieder auf der Stelle, jetzt bin ich schon aus dem Rhythmus, das ist schwierig und vielleicht die Lehre daraus, man muss für sich selber den richtigen Rhythmus finden beim Fahrradfahren – beim Lesen übrigens auch. Manche Bücher sind schnell zu lesen, bei manchen sollte man sich ein bisschen mehr Zeit lassen."

Prägende Radreise durch Irland

In "Beinarbeit, Kopfarbeit" schildert Rathjen die Eindrücke seiner ersten langen Fahrradtour in Irland – 1600 Kilometer einmal um die Insel herum. Vor genau 40 Jahren war das seine erste Reise außerhalb Deutschlands.
Er beginnt, sich mit der Literatur von James Joyce, Samuel Beckett und Arno Schmidt zu beschäftigen, den Autoren, die sein berufliches Leben prägen – und sucht in ihren Werken nach dem Motiv des Fahrradfahrens.
Jetzt, vier Jahrzehnte später, hat Rathjen Texte unterschiedlicher Autoren zusammengestellt, in denen er das Motiv beleuchtet.
"Bei Beckett haben wir eigentlich meistens trostlose, öde Welten, alles ist traurig, alles geht zu Ende, an nichts hat man mehr Freude. Und als ich mal mir die Fahrradstellen angeschaut hab, hab ich gemerkt, überall, wo ein Fahrrad vorkommt, ist plötzlich so etwas wie Freude vorhanden. Da sind Lichtblicke, da geht es den Ich-Figuren einen Moment nicht mehr ganz so schlecht. Das Fahrrad ist so etwas wie der letzte Keim von Glück, allerdings nur, wenn es richtig verwendet wird, richtig verwenden heißt in diesem Zusammenhang darauf fahren."

Becketts Unendlichkeitsmaschine

Mit Samuel Beckett hat er sich lange beschäftigt. Rathjen fielen die Fahrräder in dessen Texten auf und er erkannte einen tieferen Sinn: Das Fahrrad werde bei Beckett zur Unendlichkeitsmaschine, denn es habe die Form einer liegenden Acht, dem mathematischen Unendlichkeitssymbol, wie Rathjen erklärt.
"Das Fahrrad als Sinnbild des Auf-der-Stelle-tretens, des Sich-Bewegens und gleichzeitig Nicht-Bewegens, kann viel von Becketts Welten symbolisieren."
Wir machen uns auf den Rückweg. Immer wieder versperren Metallgatter den Weg. Im Sommer sei es besonders anstrengend, sagt Rathjen, wenn hier die Schafe weiden und deshalb jedes Gatter geschlossen sei.

Ein bisschen wir Irland

Ein bisschen ist es hier wie in Irland, denke ich. In der Ferne erkenne ich Rathjens Haus, das einsam in der Landschaft steht.
Als es dann auch noch anfängt zu regnen, bin ich froh, dass wir wieder zurück sind. In Friedhelm Rathjens Arbeitszimmer stehen an jeder Wand Regale, prall gefüllt mit Büchern und CDs. Am Fenster stapeln sich die Ausgaben von "Beinarbeit, Kopfarbeit". Mit der Literatur hält Rathjen es, wie mit dem Fahrradfahren im siebten Gang, denke ich. Es geht ihm vor allem um Eines:
"Die Überwindung eines Widerstands. Das heißt, ich bin nicht passiv. Ich kann mich auch in einen Bahnwagen setzen und schaue einfach nur aus dem Fenster, das kann auch schön sein. Aber der Unterschied wäre einfach, dass ich beim Fahrradfahren aktiv mit meinem Körper beteiligt bin. Genauso kann ich bei einem guten Buch, bei einer guten Lektüre, bei einer schwierigen Lektüre mit all meiner geistigen Kraft beteiligen an diesem Werk."

Leicht veränderte Online-Fassung (mf)

Friedhelm Rathjen: "Beinarbeit, Kopfarbeit"
Edition Rejoyce, 2018
172 Seiten, 17,- Euro

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