Rassismus und Identitätspolitik

Warum Hautfarbe (k)eine Rolle spielen sollte

09:37 Minuten
Oscar-Verleihung 2019: Rami Malek, Olivia Colman, Regina King, Mahershala Ali.
Sollten Preise gleichberechtigt verteilt werden oder sollte Hautfarbe keine Rolle spielen? Rami Malek, Olivia Colman, Regina King und Mahershala Ali bei der Oscarverleihung 2019. © imago images / Starface
Von Moritz Behrendt / Deniz Utlu im Gespräch mit Julius Stucke · 27.01.2020
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Ist es wichtig, ob eine Aussage von einem Weißen stammt? Oder wie viele Schwarze Grammys gewinnen? Ob es gegen Rassismus hilft, Hautfarbe zu benennen, ist umstritten. Der Autor Deniz Utlu sagt: Ja, denn so macht man das Problem sichtbar.
Wer über Identitätspolitik schreibt, der muss sich selbst verorten: Justus Bender, Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, tut das gleich im doppelten Sinne: "Ich bin ein weißer, heterosexueller Mann mit einer durchschnittlichen moralischen Gesinnung", schreibt er, und Bender sagt auch: "Hautfarbe sollte keine Rolle spielen". Er beruft sich auf das Grundgesetz, auf Martin Luther King und dem Traum von einer Welt, in der Charakter wichtiger ist als Hautfarbe.

Gegen Critical Whiteness

Deswegen stört sich Bender an einer Spielart der Identitätspolitik von Links – der Theorie der Critical Whiteness: Für Vertreterinnen dieser Theorie ist es durchaus relevant, ob eine Aussage von jemandem getroffen wird, der weiß ist. Sie setzen unter anderem darauf, tatsächliche und diskursive Räume für Minderheiten zu schaffen, die frei sind von den Machtstrukturen der weißen Mehrheitsgesellschaft. Der Wunsch nach "Farbenblindheit" ist für sie ein typisches Argument privilegierter Weißer.
Justus Bender sieht darin einen Bruch mit antirassistischen Traditionen – der moralische Anspruch, dass Hautfarbe kein Kriterium bei der Bewertung von Menschen sein dürfe, gehe verloren.

"Wir" und "die Anderen"

Die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler pflichtet Bender bei. Diskussionen darüber, dass große Preise wie die Oscars oder die Grammys lange männlich und weiß dominiert waren, seien fruchtbar, sagte sie im Deutschlandfunk Kultur. Sie rechtfertigten aber nicht eine Umkehrung im Sinne der Critical Whiteness:
"… weil es genau die Welt noch mal aufteilt, wie das vorher in diskriminierender, stigmatisierender, herabsetzender Absicht geschehen ist, in ‚wir‘ und ‚sie‘ – jetzt mit umgekehrten Vorzeichen – und ich glaube nicht, dass das etwas ist, das hilft, um Diskriminierung und Stigmatisierung zu überwinden."

Utopie oder Ist-Zustand

Der Schriftsteller Deniz Utlu ist der Meinung, dass es einen zentralen Unterschied gibt, wenn es um die Bewertung der Aussage, dass Hautfarbe keine Rolle spiele, gehe: "Ist das eine Utopie, die uns Orientierung gibt? Oder ist das eine Beschreibung des Ist-Zustands?"
Wenn dies eine utopische Aussage sei, dass jemand also in einer Welt leben möchte, in der Hautfarbe keine Rolle mehr spiele, "dann bemühe ich mich um politische Maßnahmen, kulturpolitische Maßnahmen et cetera, die dazu führen, dass Menschen möglichst gleich behandelt werden", so Utlu. "Wenn in einer bestimmten Struktur nur weiße Menschen sind, dann kann ich überlegen: Stimmt hier vielleicht etwas nicht?"
Wenn der Satz, dass Hautfarbe keine Rolle spiele, aber als Beschreibung des Ist-Zustands diene, dann würden daraus konträre politische Forderungen folgen: Quoten wären obsolet, man müsse niemanden sensibilisieren für die eigene Macht.

"Ein temporärer Widerspruch"

Auf die Frage, ob es wichtig sei, darauf zu achten, dass politische Ämter oder Preise wie die Grammys auch an Menschen vergeben werden, die diskriminierten Gruppe angehören, sagt Utlu: "Ich bin wirklich überzeugt davon, dass wir nicht so tun können, als wäre dieses Problem gelöst oder als würde es sich von ganz alleine lösen."
Man müsse ein Problem benennen können. Durch die Benennung werde es sichtbar. "Und indem ich es sichtbar mache, passiert temporär das, was in der Utopie eigentlich nicht passieren soll, dass eben darauf hingewiesen wird: Aha, da gibt’s Menschen, die Menschen bestimmter Hautfarbe nicht zulassen", so Utlu. Hautfarbe zu benennen, ist für Utlu nicht das Ziel, sondern "ein temporärer Widerspruch", der in Kauf genommen werden müsse.
Am Beispiel von Quotenregelungen erklärt er, wie dieser Widerspruch seiner Meinung nach verschwindet: "Wenn genug migrantisierte Menschen oder People of Color ihre Preise bekommen oder im öffentlichen Dienst eingestellt werden, dann greift die Quote ja gar nicht mehr. Sie wird obsolet. Es ist dann normalisiert und dann brauchen wir nicht mehr darüber nachzudenken. Aber an diesem Punkt sind wir wirklich noch lange nicht."
(jfr)
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