"Meine Hautfarbe tut weh"
Wie kann man als Weißer über Rassismus sprechen? Dieser Frage stellt sich Christian Lerch. Für sein Feature "Anthropogen Schwarz" hat er sich auf eine Reise begeben: in die Südstaaten der USA und zu seinem eigenen weißen Selbstverständnis.
Deutschlandfunk Kultur: Christian Lerch, Sie haben sich an ein sehr schwieriges Thema gewagt – als weißer Mann über Rassismus zu berichten. Mit welchen Gefühlen blicken Sie der Ursendung des Features "Anthropogen Schwarz" entgegen?
Christian Lerch: Ich freue mich immer auf Reaktionen. Bei meinem letzten Feature über Schusswaffengewalt in Chicago wurde kritisiert, dass ich über Schwarze berichte, aber einen weißen Priester ins Zentrum meiner Geschichte rücke. Eine berechtigte Kritik, die letztendlich dazu geführt hat, dass ich jetzt ein Feature über Rassismus in den USA mache. Ich bin gespannt, was für Reaktionen kommen. Ich kann mir vorstellen, dass Leute fragen: "Warum soll ich mich mit Themen auseinandersetzen, die nur für die USA Gültigkeit haben?" Aber Rassismus hat nicht nur Gültigkeit in den USA, es hat in allen Gesellschaften, die von Weißen dominiert werden, in allen ehemaligen Kolonialgesellschaften bis heute eine Bedeutung. Ob man’s akzeptieren will oder nicht. Ich hoffe, dass Weiße wirklich einmal überlegen und anerkennen, "ah ja, ich bin ein Weißer!". Und hoffentlich wird die Geschichte nicht aufgenommen als "wieder einmal eine Geschichte über eine verarmte Schwarze Minderheit". Denn das trifft es nicht. Es ist vielmehr eine Geschichte über die weiße dominante Mehrheit.
Deutschlandfunk Kultur: Für das Feature reflektieren Sie ihre Rolle als Weißer sehr stark. Sie haben ein critical whiteness Seminar gemacht, sich sehr bewusst auf die Interviews in den Südstaaten vorbereitet. Sie sagen, Sie sind mit der Überzeugung in das Training gegangen, nicht rassistisch zu sein. Wie denken Sie jetzt darüber?
Christian Lerch: Ich würde mir wünschen, dass ich nicht rassistisch bin. Aber schlussendlich ist das ein Gefühl. Und das wird jeden Tag auf die Probe gestellt. Wie ich mich verhalte in der U-Bahn, wie ich Leute ansehe. Ob ich anders mit Leuten rede, weil sie eine andere Hautfarbe haben als ich. Ich glaube, jeder hat rassistische Vorurteile, da kann man mir sagen, was man will. So offen kann man gar nicht sein. Denn man müsste sich als Weißer ständig vergewissern: Wie sieht der andere Dich als Weißer, hier in einer Weißen Mehrheitsgesellschaft? Und das machen ganz wenige Leute. Die Weiß-Sein-Forscherin Robin DiAngelo, bei der ich das Training gemacht habe, sagt: Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, die das Weiß-Sein zur Norm emporgehoben hat. Und deswegen müssen Weiße überhaupt nicht reflektieren, was Weiß-Sein heißt. Das macht uns nicht gleich zu Rassisten, aber damit nehmen wir in unserer Sozialisation schon sehr viel Rassismus auf. Ob wir den bis ins Alter – durch Erfahrung, durch Austausch, durch Interaktion – wegbekommen, weiß ich nicht. Das ist ein individueller Prozess, ausgelernt hat da nie jemand, glaube ich. Auch ich nicht.
Deutschlandfunk Kultur: Warum haben Sie sich entschieden, das Anti-Rassismus-Training bei einer weißen Frau zu machen? Es gibt ja viele People of Color, die derartige Trainings anbieten.
Christian Lerch: Ich fand den Werdegang von Robin DiAngelo interessant. Sie musste sich hochkämpfen aus sozial schwachen Verhältnissen und hat es bis zur Universitätsprofessorin geschafft. Und dennoch hat sie immer gesagt: Mir ist es noch sehr viel besser gegangen als jedem Schwarzen. Weil ich weiß war.
Deutschlandfunk Kultur: Dennoch: Gerade für ein Anti-Rassismus-Training ist es schon eine Besonderheit, dass sie weiß ist.
Christian Lerch: Das ist völlig richtig und ein guter Kritikpunkt. Aber so läuft unser Mediensystem. Ich wusste von ihr nur über Bücher, und diese Bücher verlegen wiederum Publishing Houses, die mehrheitlich in weißer Hand sind. Robin DiAngelo ist sehr laut, macht YouTube-Videos, macht auf sich aufmerksam. Es gibt wahrscheinlich sehr viele afroamerikanische Anti-Rassismus-Trainerinnen, nur: Auf die bin ich nicht aufmerksam geworden. Und Robin DiAngelos Buch, "White Fragility", in dem sie das Weiß-Sein so stark herausgestellt hat, hat mich sehr beschäftigt. Es hat mir geholfen, mich selbst überhaupt erst als Weißer zu sehen und ins Bild zu rücken. Ich weiß nicht, ob Schwarze Anti-Rassismus-Trainerinnen das in dieser Direktheit machen würden. Robin DiAngelo sagt: "Man muss das Weiß-Sein wirklich lernen". Sie hat mir gesagt, ich soll doch aus der "comfort zone" herauskommen. Und das stimmt: Wir Weiße werden echt in Ruhe gelassen, was unsere Identität betrifft. Zumindest weiße Männer.
Deutschlandfunk Kultur: Wie war die Erfahrung des critical whiteness Trainings für Sie?
Christian Lerch: Ich habe zunächst so reagiert wie wahrscheinlich viele Weiße reagieren. Mit Ablehnung. Man hat ein Bild von sich selber als offen, liberal und natürlich nicht rassistisch. Und dann werden Dir Fragen gestellt wie: Wo hast Du zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen oder überhaupt gewusst, dass es Schwarze Menschen gibt? Wie haben sie ausgesehen? Wie haben sie gelebt und was für eine Rolle hatten sie? Und dann sag ich, das war in einem Comicbuch oder in einem orientalischen Märchen. Und dann reflektierst Du und denkst Dir irgendwie, wow, das ist unangenehm. Das ist wirklich keine angenehme Erfahrung. Mir ist da echt mulmig geworden. Ich will mich nicht die ganze Zeit als Weißer sehen. Meine Hautfarbe tut weh. Aber wir müssen es. So viele Minderheiten müssen ständig ihre eigene Identität reflektieren. Und warum sollen wir Weiße das nicht auch machen? Wir sollen nicht so faul sein.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind sehr fair und machen sich selbst zum Protagonisten des Features, geben viel von sich preis, zum Beispiel die Black Facing Geschichte, als Ihnen als Fünfjährigem das Gesicht für eine Oper schwarz angemalt wurde.
Christian Lerch: Das war eine Überwindung. Aber ich finde, das gehört dazu, wenn ich verlange, dass Menschen wie die Schriftstellerin Jesmyn Ward über den Tod ihres Bruders und ihrer drei besten Freunde spricht – und sehr offen darüber spricht – dann kann ruhig ich auch über meine Vergangenheit mit Black Facing als kleinem Kind reden. Das muss ich schon, um eine gewisse Gleichwertigkeit herzustellen. Ich wusste als Kind natürlich überhaupt nicht, was Black Facing bedeutet. Aber jetzt im Nachhinein weiß ich’s.
Deutschlandfunk Kultur: Wie haben die Protagonisten und Protagonistinnen denn auf Sie reagiert? Haben Sie Ihnen gern ihre Geschichten anvertraut?
Christian Lerch: Ich bin mit diesem Statement auf sie zugegangen: "Ich weiß, ich bin weiß, und ich bin ein Mann", denn die meisten waren ja Frauen, "es ist extrem schwierig für mich, über Rassismus zu sprechen, darum bitte ich Sie, mir zu helfen, zu verstehen, wie es ist, strukturellem Rassismus auf alltäglicher Basis ausgesetzt zu sein." Und ich glaube, die Menschen haben sich gefreut, dass sich jemand für sie interessiert. Man muss schon sagen, DeLisle in Mississippi, wo ich die Interviews geführt habe, liegt nicht gerade auf der Landkarte der Medien. Man kommt auch sehr mühsam dorthin, das ist wirklich tiefste Einöde. Ich glaube, jeder Besucher, der Fragen stellt in die Richtung, ist sehr gewollt. Egal, ob es ein weißer oder ein Schwarzer Journalist ist.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben sich für eine ganz bestimmte Erzählperspektive entschieden, um Ihre eigenen Erfahrungen zu schildern. Sie sprechen in Du-Form, zu einem Kind. Ihrem Kind?
Christian Lerch: Es ist nicht mein Kind. Es soll ein bisschen ein abstraktes Kind von uns allen sein. Die Frage, die am Ende steht: Wird es irgendwann einmal besser werden? Haben wir Hoffnung? Gibt es eine Hoffnung auf Veränderung? Diese Du-Form oder dieses Kind, das ich da anspreche, ist eher eine abstrakte Zukunft. Das, was nach mir kommt. Das, was nach uns allen kommt. Werden wir dann immer noch dieses Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß haben? Zwischen Minderheiten und Mehrheiten? Radio ist so ein intimes Medium, und wenn Du das "Du" verwendest, fühlen sich Leute sehr angesprochen. Und damit, dass ich mich selbst aufblättere mit meiner eigenen Vergangenheit, fand ich das "Du" dann auch korrekt, weil ich von mir ja etwas hergebe für dieses "Du".
Deutschlandfunk Kultur: Was denken Sie, was kann man als weiße Person tun? Kann man sich vom Rassismus befreien?
Christian Lerch: Ich glaube nicht an den großen Wandel. Rassismus wird nicht verschwinden, solange er politisch nützlich ist. Und solange er ein politischer Unterdrückungsmechanismus ist, werden wir das Konstrukt von Rassismus weiter aufrechterhalten. In Amerika oder in Europa. Wir haben investiert, wirklich monetär investiert in dieses System. Uns Weißen würde es nicht mehr so gut gehen, wenn es diesen strukturellen Rassismus nicht mehr gäbe, allein finanzieller Natur nicht. Also die Gleichheit ist eine Zukunftsvorstellung, ist eine Hoffnung, die man haben kann. Aber dass sich die erfüllt, dafür müsste sehr viel geschehen, oder die Mehrheitsgesellschaft müsste sehr zurückstecken. Als einzelnem weißen Menschen bleibt einem, glaube ich, nur, immer wieder sehr vorsichtig zu sein im Umgang mit nicht-weißen Menschen und immer zu reflektieren, wie man selbst auf sie zugeht und immer darüber nachzudenken, aus welcher Position man mit ihnen redet.
Deutschlandfunk Kultur: Im Feature taucht zu genau dieser Frage ein toller Satz auf: "Vergiss, dass ich Schwarz bin. Vergiss nicht, dass ich Schwarz bin."
Christian Lerch: Diesen Widerspruch müssen wir wirklich aushalten. Und den müssen sich Weiße bei jeder Interaktion mit Nicht-Weißen hinter die Ohren schreiben.
Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.
Zum Feature "Anthropogen Schwarz":
Institutionalisierter Rassismus im Süden der USA - Anthropogen Schwarz
(Deutschlandfunk Kultur, Feature, 03.12.2019)
(Deutschlandfunk Kultur, Feature, 03.12.2019)