Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen"

Im Herz der Finsternis

05:18 Minuten
Das Buchcover von Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen", Suhrkamp, 2020.
"Sogar der Tod ist ein elender Stümper", heißt es in einer Erzählung von Ralf Rothmann. © Suhrkamp / Deutschlandradio
Von Michael Braun · 26.10.2020
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Ein Bestatter entdeckt die Leiche seines Vaters in einer Zeche, eine Frau ist das ewige Opfer elterlicher Gewalt und dann ist da noch der perfekte Henker: In seinen Erzählungen verzichtet Ralf Rothmann auf Hoffnungszeichen.
Die existenziellen Mysterien, mit denen der große Erzähler Ralf Rothmann seine Figuren zu konfrontieren pflegt, gipfeln in seinem neuen Buch in finalen Grenzüberschreitungen. In den elf Geschichten seines Erzählungsbandes "Hotel der Schlaflosen" gehen die Protagonisten konsequent "diesen einen Schritt über alles hinaus".
Das "Schauen ohne jede Anmaßung", das Rothmann einst dem von ihm bewunderten Peter Handke attestierte, ist dabei ein Markenzeichen dieses Autors. Denn in seinem neuen Buch hat Rothmann unter Verzicht auf jedes Hoffnungszeichen ins Herz der Finsternis geschaut.

Entsetzliche Torturen, schockierende Drastik

Und Rothmann hat dort mit dem sowjetischen Geheimdienstoffizier Wassili Blochin einen Antihelden entdeckt, der den Prototyp des perfekten Henkers verkörpert: ein Mensch ohne jedes Gewissen, der Tausende von Hinrichtungen selbst vollstreckt hat, auch an Verwandten und engen Freunden, sobald ihm der Auftrag dazu erteilt wurde. Rothmann hat sich mit geradezu unheimlicher Empathie in die Innenperspektive dieses Genickschuss-Spezialisten versetzt und zeigt ihn bei seiner von zynischen Bemerkungen begleiteten Tötungspraxis, die ihm routiniert von der Hand geht.
Ralf Rothmann lehnt an einen Baum und schaut zur Seite
Erzählt auch vom Drama elterlicher Gewalt: der Schriftsteller Ralf Rothmann.© Getty / Ernesto Ruscio
In der titelgebenden Erzählung sitzt er einem prominenten Opfer, dem jüdischen Schriftsteller Isaak Babel gegenüber, der mit seiner schonungslosen Kriegschronik "Die Reiterarmee" bei der Sowjetmacht in Ungnade gefallen war. Der Henker gewährt dem Todgeweihten noch eine letzte Mahlzeit, die der Gefolterte aber kaum mehr zu sich nehmen kann, da ihm entsetzliche Torturen zugefügt wurden. So kann Babel den Wunsch des Henkers nach einer letzten Autorensignatur auch nur dadurch erfüllen, dass er seine Fingerabdrücke im Buch hinterlässt.
Diese Titelerzählung ist in ihrer schockierenden Drastik das erschütternde Zentrum des Buches, sie setzt die moralische Bestialität als anthropologische Konstante.

Ruhrgebietsmilieu der Baustellen und Zechen

Die übrigen zehn Erzählungen gruppieren sich um diesen finsteren Kern des Buches als mehr oder minder gelungene Variationen in erzählerischer Verhängnisforschung. In der ersten Erzählung reißt gleich zu Beginn einer Violinistin eine Saite ihres Instruments. Und dies ist der Auftakt zu einer Reihe seelischer Erschütterungen, die den Helden und Heldinnen dieser Geschichten widerfahren.
Einige davon spielen in jenem Ruhrgebietsmilieu der Baustellen und Zechen, in denen die stärksten Bücher Rothmanns angesiedelt sind. Die Fallgeschichte "Auch das geht vorbei" erzählt in extrem komprimierter Form die Lebenstragödie einer Frau, die das Drama elterlicher Gewalt und schwarzer Pädagogik im Umgang mit geliebten Menschen fortsetzt.
Ein Polier auf dem Bau ("Der Dicke Schmitt") hofft darauf, dass sein junger Geselle in Liebe entflammt zu seiner gehbehinderten Tochter – ein ebenso aussichtsloses Unterfangen wie die Suche nach dem Lebensglück. Ein Bestatter entdeckt schließlich (in "Der Wodka des Bestatters") in einer Zeche bei Bottrop den Leichnam seines Vaters, der als junger Mann bei einem Grubenunglück viele Jahrzehnte zuvor verschüttet wurde. Er muss den Toten, der durch Kupfersulfat in fast unversehrtem Zustand blieb, in den Sarg legen. Diese Erzählung ist als Reminiszenz an Johann Peter Hebels Bergwerk-Geschichte "Unverhofftes Wiedersehen" zu lesen.

Boshafter Beitrag zu 30 Jahre Wiedervereinigung

Eher Spott als Emphase erntet dagegen Peter Schneiders Erzählung "Der Mauerspringer". Einige Berliner Underdogs agieren in Rothmanns Text als Komparsen am Filmset von Reinhard Hauffs "Mauerspringer"-Verfilmung und sorgen mit ihren rauen Späßen fast für ein behördlich verordnetes Ende der Filmarbeiten. Das darf man als ziemlich boshaften Beitrag zum dreißigsten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung lesen. Der einzige schwächere Text in diesem Buch ist als Dialog zweier beziehungsgestörter Akademikerinnen angelegt, die sich einer viril übersteuerten Rhetorik bedienen.
Es kennzeichnet die Erzählkunst Ralf Rothmanns, dass er uns immer häufiger und immer intensiver mit jäh abbrechenden Lebenskurven konfrontiert. "Sogar der Tod ist ein elender Stümper", bemerkt an einer Stelle der Bestattungsunternehmer. Als Trostspruch ist das freilich nicht zu verstehen; alle Notausgänge ins Offene bleiben hier verriegelt.

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Berlin
206 Seiten, 22 Euro

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