Rainer Moritz: "Das Weihnachtsturnier"

Tipp-Kick unterm Tannenbaum

14:34 Minuten
Die Illustration auf dem Buchumschlag von Rainer Moritz' Weihnachtsgeschichte "Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier" zeigt eine alte Dame, die mit einer Tipp-Kick-Figur einen Ball ins Tor schießt. Im Hintergrund ist ein Tannenbaum zu sehen.
Sportliche Weihnachten: In Rainer Moritz' Erzählung entkommt eine patente alte Dame beim Tischfußball der Einsamkeit. © Evangelische Verlagsanstalt
Moderation: Thorsten Jabs · 06.12.2020
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Fräulein Schneider ist eine resolute Rentnerin, an Heiligabend bekommt sie Besuch von dem zehnjährigen Konrad. Sie nötigt ihn, Tipp-Kick zu spielen. Zusammen stellen sie ein Turnier auf die Beine. Eine Weihnachtsgeschichte von Rainer Moritz.
Thorsten Jabs: Um Liebe geht es an Weihnachten, und wie keine andere Zeit ist es die Zeit von Geschichten. Sie werden gemeinsam gelesen oder vorgelesen – allen voran natürlich die biblische Geschichte von der Geburt Jesu Christi. Aber auch berühmte Geschichten wie "A Christmas Carol" von Charles Dickens über den Geizhals Ebenezer Scrooge oder "Der kleine Lord" von Frances Hodgson Burnett, die natürlich auch durch Verfilmungen weltweit berühmt geworden sind.
Eine neue Weihnachtsgeschichte hat der Autor, Essayist und Übersetzer sowie Leiter des Literaturhauses Hamburg Rainer Moritz geschrieben. Sie heißt "Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier", und darüber spreche ich jetzt mit dem Autor selbst.

Ein altes Fräulein in der Abseitsfalle

Herr Moritz, in Ihrer Geschichte, die als kleines Büchlein erschienen ist, erinnert sich ein erwachsener Mann, Konrad, an eine Episode seiner Kindheit. Als Zehnjähriger hat er Fräulein Schneider an einem Weihnachtstag näher kennengelernt, die viele Jahre in der Firma seines Vaters als Buchhalterin gearbeitet hat, Ähnlichkeit mit Miss Marple beziehungsweise der Miss-Marple-Schauspielerin Margaret Rutherford hat und die ihn für Tipp-Kick begeistert. Wie kam Ihnen die Idee zu dieser Weihnachtsgeschichte?
Rainer Moritz: Man muss ja heute, wenn man eine Weihnachtsgeschichte schreibt, fünfmal überlegen. Es ist so viel über Weihnachten geschrieben worden, es gibt furchtbar triefende Weihnachtsgeschichten, es gibt bösartige Weihnachtsgeschichten – ich wollte einen Weg wählen, den man noch nicht so oft beschritten hat, indem ich mir eben dieses Fräulein Schneider ausgedacht hab. Sie haben sie beschrieben, als was tritt sie da auf, und vor allem - davon handelt die Geschichte - was verändert sich in dieser Beziehung?
Konrad, der Zehnjährige, muss zu Fräulein Schneider. Die Eltern sagen ihm: "Ach, es ist doch furchtbar, dieses arme Fräulein Schneider, so allein lebend, sie hat niemand an Weihnachten, mach ihr doch an Heiligabend einen Besuch, statte ihr einen Besuch ab." Das tut er auch, natürlich widerwillig, welches Kind tut das schon gern? Und dann merkt er, Fräulein Schneider, die sehr viel Wert darauf legt, als "Fräulein Schneider" angesprochen zu werden, ist ganz anders, als er sich ältere Frauen bisher vorgestellt hat.
Sie hat nicht nur Ähnlichkeit mit Miss Marple, sie agiert auch ähnlich, resolut wie Miss Marple, und sie hat vor allem eine Leidenschaft. Und da treffen sich die beiden dann unter der Fichte in Fräulein Schneiders Wohnung, sie hat eine Leidenschaft für Tischfußball, genauer für Tipp-Kick.

Die Eisenkugel auf dem Wunschzettel

Jabs: Mich hat Ihre Geschichte von der ersten Seite an begeistert und auch ziemlich berührt, vielleicht weil bei mir zu Weihnachten auch viele Erinnerungen hochkommen, ich selber fußballbegeistert bin und Miss-Marple-Filme mag. Gehört das zu Weihnachten, Erinnerungen?
Moritz: Ja, natürlich, auf jeden Fall. Ich glaube, viele Kindheiten sind damit verbunden, dass etwas Besonderes passiert, dass diese Spannung langsam anwächst. Das war für mich schon ganz entscheidend als Kind, als Jugendlicher noch, diese Dezembertage, die so wahnsinnig langsam vergangen sind. Man hat den Wunschzettel geschrieben, man wusste nicht, klappt das, klappt das nicht. Ich habe mir beispielsweise mal als leidenschaftlicher Kugelstoßer in meiner Jugend eine Eisenkugel gewünscht – überraschenderweise haben meine Eltern sich geweigert oder das Christkind sich geweigert, mir eine Eisenkugel zu bringen, das war im Nachhinein betrachtet vielleicht ganz vernünftig.
Rainer Moritz trägt ein dunkles Sakko und lila-weiß gestreiftes Hemd. Er schaut in die Kamera.
Weihnachtszeit ist Lesezeit: Autor und Literaturkritiker Rainer Moritz© picture alliance / Frank May
Nein, aber diese Zeit ist mit etwas Besonderem verbunden, da kann sie kommerzialisiert sein, wie sie will, es haftet dieses Besondere an. Und es ist natürlich ein Moment der Kindheit, es sind Tage der Kindheit, an die man sich erinnert, und man versucht bis heute, auch wenn man älter geworden ist, diesen Zauber irgendwie zurückzugewinnen, auch wenn es vielleicht illusorisch ist.

Ein Weihnachtsbaum, der Mitleid erregt

Jabs: Und der Konrad erinnert sich dann eben an Fräulein Schneider. Wir hatten vorher verabredet, vielleicht lesen Sie doch einfach mal ein kleines Stück aus Ihrem Buch.
Moritz: Ich lese ein kleines Stück: Wir sind in dieser Wohnung, er betritt sie zum ersten Mal an Heiligabend, und er merkt schon, es ist, auch was den Tannenbaum angeht, die Räumlichkeit, alles anders als bei ihm zu Hause:
"An der Spitze der Tanne, nein, es handelte sich um eine krumm gewachsene Fichte, deren Äste aufeinander klebten, baumelte ein ramponierter goldener Engel, der trotz seiner Schieflage eine abgebrochene Trompete tapfer in die Höhe reckte. Eine Handvoll rotwangiger Äpfel, silberne Kugeln mit weißlichen Verzierungen, die wie der Zuckerguss auf den Leckerli aussahen, eine hölzerne Nikolausfigur, die einen Schlitten mit nur einer Kufe hinter sich her zog, zwei goldlackierte Walnüsse und auf einem der untersten Zweige ein Bündel Lametta – mehr hatte dieser ungewöhnliche Christbaum nicht zu bieten und erregte Mitleid seiner Betrachter, denn Konrad war von zu Hause stolze Nordmanntannen gewöhnt, die, wie sein Vater sagt, ihren Preis hatten, aber dafür eine noble Eleganz besaßen. Jedes Jahr, pflegte seine Mutter am Ende der Feiertage anzumerken, sei ihr Baum schöner gewesen als in den Jahren zuvor, eine schier unglaubliche Kette von Steigerungen."
Das ist dieser Baum bei Fräulein Schneider, und es stellt sich dann wenige Seiten später heraus, sie hat leider in der Hektik der Vorbereitung – sie war ja mit dem Lametta sehr beschäftigt – vergessen, Kerzen anzustecken, und Konrad ist erst einmal ordentlich verstört: Ein Weihnachtsbaum, der eine schiefe Fichte ist und dann noch ohne Kerzen, das ist erst einmal zu viel für ihn.

Zwei Welten nähern sich durch Tipp-Kick an

Jabs: Ist das auch ein Teil Ihrer Geschichte, wollten Sie das so, dass diese zwei Welten auch ein bisschen aufeinandertreffen – einerseits dieser Konrad aus dieser "normalen", sag ich mal in Anführungsstrichen, Familie und dieses Fräulein Schneider, das doch etwas anders lebt und eben auch Weihnachten alleine verbringt?
Moritz: Ja, ich wollte diese Familienatmosphären gewissermaßen auflockern. Konrad kommt aus einer klassisch-bürgerlichen Familie, da läuft alles nach Ritualen ab. Bei Fräulein Schneider läuft nichts ab, sie hat außerdem ein gewisses Weihnachtstrauma. Das liegt an einem Schicksalsschlag, der unmittelbar mit Weihnachten zu tun hat, deswegen steht sie diesem Fest auch so ängstlich fast gegenüber.
Und im Laufe der Geschichte, das war natürlich ein bisschen meine Absicht, nähern sich diese Welten an, das Tipp-Kick ist sozusagen der Katalysator dafür, und selbst Konrads Eltern merken am Ende, ja, dieses Fräulein Schneider ist doch ganz anders, als wir dachten, die hat unserem Sohn vielleicht richtig gutgetan.
Jabs: Ja, und Konrad und Fräulein Schneider, das kann man vielleicht sagen, stellen ein Weihnachtsturnier auf die Beine, das auch vom Pfarrer unterstützt wird, Sie schreiben an einer Stelle: So ein Turnier passt zur Adventszeit wie der Esel in den Stall von Maria und Josef. Und dann passieren schöne, wunderbare und vielleicht auch ein wenig wunderliche Dinge, es schwingt aber auch immer – für mich jedenfalls – so eine gewisse Wehmut mit. Ist Weihnachten auch für Sie eine Zeit des Wunderbaren und der Wehmut oder doch eher hauptsächlich eine stressige Zeit?
Moritz: Nein, das Stressige, das kann man ja ein wenig beeinflussen. Wir sind alle von Familien besetzt, das ist in diesem Jahr natürlich noch mal ganz anders, aber diese Mischung, das gefällt mir ganz gut, was Sie gesagt haben, das Wunderbare, ich glaube, diesen Glauben darf man nicht aufgeben. Ein bisschen Zauber muss Weihnachten behalten, da kann man, glaube ich, auch selber etwas dazu beitragen, indem man das nicht Wunderbare gar nicht so sehr in die eigenen Räume lässt.

Literatur bietet den anderen Blickwinkel

Und Wehmut ist natürlich dabei: Konrad, Sie haben es erwähnt, die Eingangssituation, er ist ein Mann von Anfang 40 und bekommt dann die Nachricht, dass dieses Fräulein Schneider in ganz hohem Alter gestorben ist, und das ist ja der Auslöser dieser Geschichte. Ein kleiner Wermutstropfen ist natürlich dabei in dieser Geschichte, aber ich glaube, diese Mischung, die tut uns allen gut, und die tut auch dem kleinen zehnjährigen Konrad gut.
Jabs: Warum haben Geschichten, warum haben Bücher so eine besondere Bedeutung an Weihnachten?
Moritz: Ich glaube, weil sie etwas tun, was sie auch das ganze Jahr über tun, aber an Weihnachten nehmen wir das, glaube ich, anders wahr: Sie zeigen uns andere Welten, sie zeigen uns auch Möglichkeiten auf, was wäre, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Konrad macht, glaube ich, diese Erfahrung, und deswegen lesen wir hoffentlich gerne auch von solchen Geschichten – dafür könnte man ja viele Beispiele anführen –, dass man anderen Welten sich immer wieder öffnen kann.
Das fällt im richtigen Leben manchmal schwerer, man ist eingefahren in bestimmten Ritualen, aber die Literatur zeigt uns eben auf, da ist doch etwas ganz anderes, wir müssen uns manchmal nur trauen, diese andere auch zu sehen. Und weil man an Weihnachten in der Regel doch ein wenig mehr Zeit hat, auch in diese Bücher einzutauchen, merkt man erst, dass die Literatur einem vielleicht etwas bietet, was man anderswo nirgends bekommt.

Lesen als Ausklinken vom Alltag

Jabs: Sind deswegen für Sie Bücher auch ideale Geschenke?
Moritz: Ja, ich glaube, man verbindet mit dem Schenken von Büchern doch ein wenig die Hoffnung – die mag manchmal trügerisch sein, aber sie ist auf jeden Fall da –, dass man sich ausklinken kann, dass man sozusagen nicht im Alltagstrott verharrt, dass man nicht nur die Geldscheine zählt, auch dass die Kinder nicht nur die Geldscheine zählen, die sie vielleicht zu Weihnachten von ihren Onkeln und Tanten geschenkt bekommen haben, sondern das Verschenken von Büchern und das Lesen von Büchern hat, glaube ich, immer diese Hoffnung, die schwingt zumindest mit: Wir können auch anders – wir können uns anders verhalten, wir können uns vielleicht auch mal von Netflix oder vom Laptop lösen.
Deswegen haben – das kann ja jede Buchhändlerin, jeder Buchhändler bestätigen – diese Bücher, erstaunlicherweise muss man fast sagen, nichts von ihrem Geschenkcharakter verloren. Sie sind auch origineller als Krawatten oder Rasierwasser.
Jabs: Und was passiert, wenn Bücher einfach sinnlos geschenkt werden, weil man gar nicht genau weiß, was der Beschenkte für einen Geschmack hat?
Moritz: Das ist für den Buchhändler, für die Buchhändlerin schön, weil wenigstens die Umsatzkasse klingelt, wenn jetzt alle Barack Obamas Autobiografie verschenken. Nein, das ist natürlich ein Effekt, an dem kann man nicht vorbei, deswegen gilt es auch, Bücher sorgfältig auszuwählen. Wenn man nur die "Spiegel"-Bestsellerliste abklappert mit dem Gedanken, sicher ist sicher, etwas, was da oben steht, das wird schon irgendwie funktionieren – das sind meistens die Geschenke, die dann nicht dieses Glück auslösen.

Entdeckungen abseits von Bestsellerlisten

Deswegen lohnt es sich nachzudenken, wer soll dieses Buch bekommen, was hat diese Person für Vorlieben, für Interessen, vielleicht auch für heimliche Sehnsüchte. Und wenn man dann noch einen Buchhändler hat, der einen gut berät, der einen auf diese Bücher auch hinweist, dann kann man, glaube ich, wirklich viel auslösen. Und deswegen: Abseits der Bestsellerlisten hat man oft vielleicht die schöneren Bücher und die, die auch länger nachwirken.
Jabs: Wie sind da Ihre Erfahrungen, finden Sie es schwer, passende Bücher für Freunde, Familienangehörige zu finden?
Moritz: Ich habe aus Berufsgründen natürlich jeden Tag mit vielen Büchern zu tun, deswegen habe ich das Glück, dass ich manchmal nur mein Büro abschreiten muss: Was ist da gekommen in den letzten Wochen an Büchern? Ich lese natürlich auch immer noch viele Feuilletons, ich schaue im Internet an, was wird dort an Büchern empfohlen, deswegen fällt es mir vielleicht ungewöhnlich leicht, jetzt hier auch, in Anführungszeichen, das "richtige" Buch zu verschenken.
Andererseits erinnert sich meine Schwester daran, dass ich ihr, als sie zehn, zwölf, vierzehn war – sie ist sechs Jahre jünger als ich –, immer pädagogisch wertvolle Bücher geschenkt habe, die sie erst drei, vier Jahre später gelesen hat. Ich hoffe, das ist im Laufe der Jahre etwas besser bei mir geworden, was die Auswahl von Weihnachtsbüchern angeht.

Versunken in ein Buch - der Inbegriff von Heimeligkeit

Jabs: Ist es eigentlich vielleicht manchmal nur ein schönes Bild, ich male mir manchmal aus – ich habe keinen Kamin, aber – so am Kamin zu sitzen und zur Weihnachtszeit, zur Festzeit ein schönes Buch zu lesen, ist das nur so ein Imagebild, oder steckt da mehr dahinter?
Moritz: Ich glaube, das gehört zu unserer klassischen Vorstellung von Heimeligkeit dazu, die mag manchmal kitschig sein, aber das macht nichts. Deswegen gibt es ja auch immer wieder alle Jahre Bildbände, die heißen "Frauen, die lesen" oder Gemälde aus der Kunst- und Kulturgeschichte werden schön reproduziert, wo wir lesende Menschen sehen, denn einen lesenden Menschen zu zeigen, das hat etwas ganz Besonderes.
Dieser Mensch, wenn wir ihn abbilden, fotografieren oder ein Gemälde von lesenden Menschen anschauen, dann sehen wir Menschen, die absehen vom Alltag, die versunken sind. Das ist, glaube ich, ganz wichtig, dieses Motiv des Sichhineinversetzens, des Abtauchens und dann plötzlich das Erschrecken, wenn man angesprochen wird.
Das ist ja etwas, was Leserinnen und Leser gut kennen, dass wir plötzlich, wenn wir das richtige Buch haben, die richtige Handlung haben, die richtigen Personen, dass wir dann wirklich absehen können von allem, dass wir nichts mehr von dem mitbekommen, was um uns herum passiert. Selbst wenn die Weihnachtsgans in der Küche duftet, der Roman ist dann vielleicht sogar stärker als die Weihnachtsgans.

Lesen als Zuflucht in Coronazeiten

Jabs: Ja, und glauben Sie, dass in diesem besonderen, verrückten Coronajahr Bücher eben noch mal mehr Kraft geben können oder helfen können bei diesem Abtauchen, wie Sie es beschreiben?
Moritz: Ich glaube, es ist schlichtweg eine Zeit, wo mehr Zeit möglich ist. Andererseits sind die Menschen auch von Unruhe gepackt, ich glaube, das ist im Einzelfall ganz unterschiedlich. Auch das merkt man ja an sich selber, dass man sich sagt: "Ach, jetzt habe ich ja wunderbar viel mehr Abende zur Verfügung." Aber trotzdem sind wir natürlich alle von einer leichten Nervosität gepackt, je nachdem, in welchen Berufen wir arbeiten: Wie wird es weitergehen, wie geht es mit unserer Gesellschaft weiter?
Man muss sich, glaube ich, manchmal ein bisschen dazu zwingen, dazu nötigen und sich selber sagen: Jetzt tauche ich ab, jetzt lasse ich mich nicht beeindrucken von all dem, was da draußen passiert. Ich muss auch nicht permanent lesen auf meinem Smartphone, was jetzt wieder in der Welt Neues passiert ist, wer wieder was gesagt hat oder kommentiert hat.
Das ist die große Chance von Büchern, auch von Klassikern, es müssen ja nicht immer Neuerscheinungen sein, es können Bücher des 19. Jahrhunderts sein, die großen Romane des 19. Jahrhunderts sein. Diese Möglichkeit bietet, glaube ich, diese Zeit, in der wir uns im Moment befinden, besonders.

Offen sein für Neues und Überraschendes

Jabs: Glauben Sie, dass "Fräulein Schneider", die ja Miss Marple sehr ähnlich ist – darüber haben wir gesprochen – und Weihnachten eigentlich immer allein gefeiert hat, Menschen auch Kraft geben kann?
Moritz: Ich glaube, sie ist eine resolute Frau – so hab ich zumindest versucht, sie darzustellen –, eine Frau, die einiges mitgemacht hat, die aber in ihrem Beruf ihre Frau gestanden hat und die genau spürt – deswegen klappt auch diese Beziehung zu Konrad –, wenn sie merkt, da ist jemand, der ebenfalls etwas Neues erfahren will.
Sie erlebt ja im Laufe der kleinen Erzählung einiges, sie darf sogar im Fernsehen auftreten, als es um dieses Weihnachtsturnier geht, auch dort im Fernsehen schlägt sie sich tapfer. Das war natürlich ein kleines Hoffnungsbild auch beim Schreiben des Textes, dass diese Fräulein Schneider uns zeigt: Ja, das geht auch anders, man muss nicht in diesem Trott verharren, ich kann in bestimmten Konstellationen mir auch etwas ganz Neues, immer noch Überraschendes für mein Leben ausdenken.
Jabs: Und was würde sie Menschen, die vielleicht einsam, traurig oder verzweifelt sind, sagen oder vielleicht tun, um ihnen ein bisschen beizustehen?
Moritz: Fräulein Schneider würde ihnen ganz einfach sagen, etwas, was sie ja selber dann tut, Sie entwickelt ja dieses Turnier, sie hat Glück, dass sie diesen kleinen Konrad trifft, aber die Möglichkeit, und das würde Fräulein Schneider vielleicht auch weitergeben in ihrem resoluten Auftreten: Bleib nicht nur sitzen, sondern steh auf, versuche irgendwo dich anzubinden, versuche einen Menschen zu treffen, mit dem du etwas anfangen kannst, und dann sieht vielleicht dein Leben plötzlich auch anders aus.
Dafür muss man nicht Fräulein Schneider heißen, dafür muss man nicht Ende 60 sein, sondern das kann, glaube ich, jeder in seinem eigenen Leben immer wieder erleben, aber es bedarf dieses Moments des Aufraffens, des Zupackenwollens.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Rainer Moritz: "Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier"
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020
128 Seiten, 12 Euro

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