Rafik Schami

"Ich neige nicht zum Märtyrertum"

Der Schriftsteller Rafik Schami
Der Schriftsteller Rafik Schami © Deutschlandradio / Andi Hörmann
Rafik Schami im Gespräch mit Frank Meyer · 29.09.2015
Der Held seines Romans "Sophia" kehrt nach Damaskus zurück – aus dem italienischen Exil. Eine solche Reise in sein Geburtsland Syrien hat der Schriftsteller Rafik Schami lange Jahre nicht gewagt: weil er fürchtet, verhaftet zu werden. Dennoch glaubt er, dass am Ende der Mensch stärker sei, als alle Diktaturen der Welt.
Frank Meyer: Sie flohen vor Krieg, Verfolgung und Unfreiheit. Sie fanden in Deutschland ein neues Zuhause. Geschichten vom Ankommen. Die erzählen wir hier in unserer Reihe "Neues Zuhause". Und heute tun wir das mit dem Autor Rafik Schami. Vor 44 Jahren ist Rafik Schami aus Syrien geflohen. Heute ist er ja ein sehr viel gelesener Autor und in seinem jüngsten Roman erzählt er von einem Mann, der wie er selbst aus Syrien geflohen ist. "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" heißt dieses Buch und Rafik Schami ist jetzt in Bonn für uns im Studio. Guten Tag, Herr Schami!
Rafik Schami: Guten Tag!
Meyer: Ihr Romanheld Salman, der lebt in Italien, der hat da eine Frau, einen Sohn, er hat ein gut gehendes Geschäft, eigentlich ein wirklich gutes Leben. Aber trotzdem sehnt er sich nach Damaskus wie verrückt, er will unbedingt mal zurück, trotz der Risiken, die das auch für ihn mit sich bringt. Wie ist das denn bei Ihnen, sind Sie auch im Herzen nach wie vor in Damaskus zu Hause?
"Diese Sehnsucht kommt aus einer Verletzung"
Schami: Es gibt eine Sehnsucht. Man ist nicht dort zu Hause, man ist realistisch genug zu verstehen, dass man vertrieben wurde, dass man nicht seine Kindheitsorte besuchen darf. Aber diese Sehnsucht kommt aus einer Verletzung, einer Verletzung, dass man einem Menschen verbietet, einfach frei in sein Land rein- und rauszugehen. Und Salman hat das durchgemacht, wovon ich immer geträumt habe. Er hat sich abgesichert natürlich durch die Amnestie, durch Kontakte mit seinem Cousin, der ein hohes Tier im Geheimdienst ist, und er hat ihm versichert, es liegt nichts gegen dich vor. Salman geht zurück und da kommt die Ernüchterung. Das sagt jeder Psychoanalytiker: Man kann auf einen Exilanten einreden, 24 Stunden am Tag, dass seine Bilder, diese Idylle, die er aufgebaut hat von seinem Kindheitsort, nicht mehr stimmt. Diese Idylle stimmt nicht! Das hilft nicht. Man muss … Das ist die Lösung, man muss hingehen und ernüchtert selbst feststellen, dass sich vieles verändert hat. Das erlebt Salman schon bei der Ankunft beim Flughafen.
Meyer: Das heißt, Sie würden auch gerne zurückgehen und sich ernüchtern lassen? Natürlich nicht in der gegenwärtigen Situation, nehme ich an, aber grundsätzlich Damaskus wiedersehen wollen?
Schami: Auf jeden Fall! Das ist mein Traum, dort, das habe ich mal gesagt, in der Gasse mit meinem Sohn, der auch ein exzellenter Murmelspieler ist, symbolisch Murmeln zu spielen, zu sagen, der Mensch ist stärker als alle Diktaturen der Welt.
Meyer: Was hat denn bei Ihnen bisher, jetzt vor der Bürgerkriegszeit, die Rückkehr verhindert?
Schami: Die Angst, dass ich verhaftet werde und dann hoffe, dass die Welt mich herausrettet, aber ich war nicht sicher, dass ich gesund rauskomme. Auch wenn die Welt schnell reagiert – ich habe ja einen deutschen Pass, ich bin deutscher Staatsbürger –, aber das hilft nichts, im Geburtsland hat die Regierung dort die Oberhand. Und ich neige nicht zum Märtyrertum. Ich lebe hier, ich habe hier eine Familie, ich habe mein Publikum. Und über diese wunderbare deutsche Sprache habe ich 28 Sprachen erreicht, wie Sie da eingeführt haben. Ich sehe keinen Anlass. Dann kam eine Verführung 2009, eine Amnestie für mich extra mit einem sehr vornehmen Botschafter, der mit mir gesprochen hat. Natürlich traf ich ihn nicht in der Botschaft, das lehne ich ab, sondern außerhalb in Berlin. Und das Angebot hat meine Eitelkeit gekitzelt, ich soll zurückkommen und einen Riesenempfang bekommen und ein Haus der Kultur mit dem Namen Rafik Schami eröffnen. Aber ich habe langsam begriffen, sie wollen mich als Poliermittel für ihre Visage haben. Sie haben abgelehnt, ganz kalt abgelehnt, dass ich privat zurückkehre erstmal und meine Sehnsucht stille. Und dann war ich bereit, zurück nach Deutschland und von da aus noch mal offiziell zurückzukehren. Die waren knallhart und ganz klar, nein, entweder kommen Sie … Ein weltberühmter Autor kehrt nicht privat zurück, entweder kommen Sie offiziell oder Sie bleiben im Exil. Und deshalb glaube ich keinem arabischen Dichter, keinem arabischen Musiker, keinem Maler, der mir erzählen will, er sei zurückgekehrt und er wusste nicht, dass man ihn missbrauchen würde im Fernsehen, seinen O-Ton zurückdreht und dann über ihn sagt, er sei begeistert von diesem wunderbaren, genialen Führer Bashar al-Assad! Die lügen, das ist Selbstlüge. Die Diktatur besteht zu zwei Dritteln aus dem Wort Diktat. Und dann Diktatur. Die Diktatur diktiert, was sie will, die bittet nicht darum, bis zu ihrem Sturz bittet sie nicht darum.
Meyer: Die "Lesart" in Deutschlandradio Kultur, der Autor Rafik Schami ist heute bei uns. Sein neuer Roman heißt "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten". Herr Schami, der Roman spielt ja einerseits im Exil, andererseits eben auch in Syrien. Und da beschreiben Sie – man hat den Eindruck, für Sie ist das so ein Grundübel der syrischen Gesellschaft, vielleicht nicht nur der – nämlich die Sippe. Was meinen Sie damit, mit dieser Sippe?
"Diese Sippe hat uns überleben lassen"
Schami: Ja, das ist eine geniale Erfindung in der Wüste gewesen, um diese lebensfeindliche Wüste zu überleben. Das heißt, Zusammenhalt um jeden Preis! Sie hören das richtig! Das heißt, diese Sippe hat uns überleben lassen, die legt uns jetzt aber Fesseln. Vor der Zivilisation, die Wert auf Freiheit, Wert auf das Individuum legt, Wert auf die Würde, das erkennt die Sippe nicht an. Die erkennt den Staat auch nicht an. Sippe ist nicht Familie, Sippe ist eine Pyramide, müssen Sie sich vorstellen. Irgendjemand hat das gegründet und dann verzweigen sich die Fäden herunter. Und die Familie ist an der Basis der Pyramide, diese kleinen Einheiten. Aber zwischen den Zweigen gibt es filigrane Verbindungen, sodass sie zusammenhält. Und der Grundgedanke in der Sippe ist: Steh zu deinem Bruder im Recht und im Unrecht. Und damit fängt der Konflikt mit der Zivilisation an.
Meyer: So wie auch der Assad-Clan eine Sippe ist.
Schami: Natürlich! Er könnte einen Analphabeten, neunten Grades Cousin, als Kultusminister stellen und ihm genügend tatsächliche Experten zur Verfügung stellen, Hauptsache, Assad weiß, dass dieses Kultusministerium eine Verzweigung seiner Macht ist und kein Contra, keine Opposition. Die Sippe erkennt die Opposition nicht an. Deshalb sagt die Amalia: Alle Versuche werden scheitern, solange diese Sippe besteht. Die es ihrerseits wiederum dem Staat erleichtert, indem sie hilft. Das heißt, die Sippe gibt eine Geborgenheit gegen die Freiheit des Einzelnen. Zum Beispiel, wenn jemand krank ist, tun sie ihr Geld zusammen und behandeln ihn. Der Staat ist damit entlastet! Wenn jemand arbeitslos ist, kommt ein reicher Cousin und verschafft ihm eine Stelle oder gibt ihm Geld. Der Staat braucht sich nicht um die Arbeitslosen kümmern. Deshalb ist bei uns die getarnte Arbeitslosigkeit fast 20 Prozent.
Meyer: Und die Demonstranten, Herr Schami, die am Anfang der Proteste gegen das Assad-Regime auf die Straße gegangen sind, waren das Menschen, die diese Gefangenschaft in der Sippe überwunden hatten?
Schami: Absolut richtig, was Sie sagen, ich füge keinen Buchstaben hinzu. Das war ein Augenblick der Hoffnung. Auf dem Tahrir-Platz waren junge Menschen, die bereit waren, für ihr Wort zu stehen, ohne den Papa zu fragen und den Onkel siebten Grades um Genehmigung zu bitten und die Schwiegertochter um Verzeihung zu bitten, dass man jetzt protestieren will. Sie sind hingegangen, das war der erste Schritt, um die Sippe zu zerstören. Selbstständige Individuen stellen sich zusammen und wählen die Freiheit als Weg. Aber die sind gescheitert. Wie Sie sehen, kommen wir auf al-Sisi, die Muslimbrüder haben sie erwürgt und al-Sisi hat sie zu Grabe getragen. Mit denselben Strukturen, Korruptionen, die Mubarak gemacht hat, die Assad macht, die Saudi-Arabien macht. Das ist kein Phänomen in Syrien, das ist ein Phänomen in der arabischen Welt.
Meyer: Herr Schami, in Ihrem Roman, der spielt am Vorabend des Arabischen Frühlings, das Wetter leuchtet schon in Ihrem Buch. Jetzt haben wir diesen Bürgerkrieg in Syrien mit 220.000 Toten, Millionen Flüchtlingen. Und es heißt inzwischen ja auch von der deutschen Bundeskanzlerin, man müsse jetzt auch mit Assad reden, um etwas in Syrien zu erreichen. Denken Sie das eigentlich auch?
"Auch Angela Merkel geht falsche Wege"
Schami: Nein. Auch Angela Merkel geht falsche Wege. Also, das ist nicht … Niemand ist gefeit und es ist kein Platz hier für Häme gegen die Bundeskanzlerin. Es ist ein falscher Weg, ein unglaubwürdiger Weg. Jemand, der Giftgas auf die Bevölkerung schmeißt, jemand, der explodierende Fässer auf die Straßen wirft, hat sich rauskatapultiert von den Möglichkeiten. Aber die Russen – das muss ich wirklich im selben Atemzug sagen –, die wirtschaftlich am Boden liegen, die Iraner auch, die große wirtschaftliche Probleme haben, haben gezeigt: Sie haben Politiker von Weltformat und leider Gottes gibt es im Westen keinen Kontrahenten, der ihnen das Wasser reicht. Auch Obama erschien jetzt im Fernsehen heute Morgen, so was von schwach, auf oberflächliche Effekte setzend. Er gab ihm die Hand, kürzer als je ein Präsident, was spielt das für eine Rolle? Putin hat einen Vorschlag schon für die Zukunft und die humpeln hinter ihm her! Also, dieser Vorschlag von Angela Merkel ist nicht ihrer, sondern der von Putin! Also, das ist … Langsam scheitert Westeuropa, stürzt ins Chaos, weil es unvorbereitet, kalt getroffen wird. Und es hatte jahrelang Zeit, sich vorzubereiten! Was machen wir? Wie gehen wir vor?
Meyer: Aber die Hoffnung wäre ja, wie ich diese Projekte verstehe, mit Assad in eine Übergangszeit zu kommen und danach zu einem Neuanfang zu kommen in Syrien. Das können Sie sich nicht vorstellen, wenn man mit Assad-Leuten eine Übergangsregierung …
Schami: Moment, Sie haben jetzt eine geniale Wendung in der Formulierung getroffen! Ich komme mit und sage: Ja, mit Assad-Angehörigen, mit Assad-Anhängern, ja, das muss man, ganz realistisch die Hand halten. Dafür habe ich plädiert in der arabischen Presse, wir müssen lernen zu verzeihen. Mit Assad-Anhängern, ja! Das ist ja mein Vorschlag von vor drei Jahren, man muss mit ihnen sogar lange Übergangsregierungen machen. Aber nicht mit Assad als Person, der dann sadistisch oben grinst und überlebt, alle Systeme, auch Obama. Dann würde er dableiben, wo Obama stürzt, und dann kommt irgendein anderer. Sondern Assad-Anhänger, die bilden eine langfristige Übergangregierung von fünf bis zehn Jahren … Merken Sie, wie geduldig ich bin? So fünf bis zehn Jahre brauchen wir, um diesen Hass abzubauen und um ISIS zu besiegen, um diese Trümmerhaufen … Nicht draußen, draußen geht schnell, wir haben Geld in Arabien, sondern drinnen im Herzen. Dieser Hass, Sekte gegen Sekte und Fraktion gegen Fraktion, das kann man mit den Anhängern und Verwandten von Assad machen, aber nicht mit dem und mit seinem Bruder und den 15 Geheimdiensten. Die müssen sofort aufgelöst werden.
Meyer: Wir haben ja am Anfang gesprochen über Ihre Sehnsucht auch nach Damaskus. Jetzt haben Sie diese langen Zeiträume angesprochen. So lange würde es dann wohl auch dauern, bis Sie Ihre Sehnsucht nach Damaskus befriedigen können.
Schami: Nein, nein. Es kann sein, dass die Übergangsregierung innerhalb von – sagen wir eine überschaubare Zeit – zwei, drei Jahren Ordnung schafft, Sicherheit schafft, dass man nach Damaskus ungestört zurückkehrt, wie die Iraker, meine Freunde aus dem Irak wirklich ganz kurz nach der Eroberung durch die Amerikaner nach Bagdad rein- und rausgehen konnten. So ist es nicht! Ich habe keine Angst, dass irgendwas passiert. Dann ist das mein Schicksal, aber ich habe Angst vor Verhaftung, das ist was anderes. Und die Übergangsregierung würde sich nicht erlauben, einen Schriftsteller zu verhaften, der in friedlicher Absicht sein Land besuchen will.
Meyer: Rafik Schami, sein neuer Roman "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" erzählt auch von der Sehnsucht nach Damaskus eines Mannes, der aus Syrien geflohen ist. Der Roman ist im Hanser Verlag erschienen mit 480 Seiten, der Preis: 24,95 Euro. Herr Schami, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Schami: Ich danke Ihnen sehr für die Fragen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten
Hanser Verlag, München 2015
480 Seiten, 24,95 Euro

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