Räumung eines Geflüchteten-Camps in Paris

Das schmale Band unserer Zivilität

03:56 Minuten
Zwei Männer sitzen vor ihren Zelten am 23. November 2020 auf demPariser Place de la République, im Hintergrund die Marianne – die Symbolfigur der Republik.
Geflüchtete unter den Augen der "Marianne": Ihre Räumung folgt der menschenverachtenden Logik europäischer Migrationspolitik, meint Robin Celikates. © AFP / Martin Bureau
Ein Kommentar von Robin Celikates · 29.11.2020
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Die gewaltsame Räumung eines Geflüchteten-Camps in Paris sorgt für Empörung. Selbst Innenminister Darmanin nannte die Bilder „schockierend“. Für Robin Celikates ist das Vorgehen Teil einer menschenverachtenden Einwanderungspolitik Europas.
Marianne – die stolze Symbolfigur der Republik – thront hoch über der Pariser Place de la République, den Olivenzweig des Friedens in ihrer Rechten, die Linke auf einer Tafel mit den Menschenrechten, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf dem Sockel. Dass die 500 heimat- und obdachlosen Geflüchteten sich genau diesen geschichtsträchtigen Platz für ihre Aktion ausgesucht hatten, war sicher kein Zufall: Sie wollten mit dem symbolischen Zeltlager aus dem Schatten treten, ihren intolerablen Zustand sichtbar machen und die Republik an ihre eigenen Werte und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen erinnern.

Mit Gewalt gegen symbolische Besetzung

Nach nur einer Stunde wurde der Platz von der auch in Frankreich sinnkräftig "forces de l’ordre" genannten Polizei, von den "Ordnungs-Kräften" also, geräumt, unter massivem Schlagstock- und Tränengas-Einsatz. Die Geflüchteten wurden durch die Straßen gejagt und damit einmal mehr zu Flüchtenden.
Dabei war eigentlich klar, dass es sich nicht um die dauerhafte Installation eines Lagers im Pariser Zentrum, sondern um eine symbolische Aktion von begrenzter Dauer handelte, um eine politische Intervention, einen Akt des zivilen Ungehorsams. Im Stil von Occupy und anderen "Bewegungen der Plätze" – nicht zuletzt der Bewegung "Nuit debout", die im Frühjahr 2016 genau denselben Platz wochenlang mit ihren nächtlichen Protesten gegen den Abbau sozialer Rechte besetzt hielt –, hatten die Geflüchteten wortwörtlich und symbolträchtig einen Platz in der Öffentlichkeit beansprucht.
Der Berliner Sozialphilosoph Robin Celikates, in offenem Hemd und dunkler Strickjacke, schaut entspannt in die Kamera.
Der Berliner Sozialphilosoph Robin Celikates© Rainer Christian Kurzeder
Die nach der brutalen Räumung auf dem Platz herumliegenden zertretenen Zelte sind indes ein ebenso machtvolles Bild. Die alles andere als zivile Reaktion des Staates stellt uns nämlich mit großer Dringlichkeit vor grundlegende Fragen: Wer gilt überhaupt als legitimes politisches Subjekt? Wer darf im öffentlichen Raum auftreten und sprechen? Wie weit reicht das Band der Zivilität, das die politische Gemeinschaft mutmaßlich zusammenhält? In Frage steht nicht nur, wer ein Recht auf dies oder das hat, sondern wer überhaupt das Recht hat zu sein, zu existieren, und zwar in einer Weise, der man nicht mit vollkommener Indifferenz und Feindschaft gegenübertreten kann.

"Wir sind hier" – Sichtbarmachung ungleicher Bande

Genau gegen diese existenzielle Gleichgültigkeit, soziale Unsichtbarmachung und politische Entrechtung setzen sich die Geflüchteten zur Wehr, wenn sie skandieren: "Wir sind hier." Wir sind hier und können und wollen nicht weg. Wir sind Teil Eurer Welt, Eurer Realität. Und wir sind auch deshalb hier, weil unsere Lebensweisen miteinander verschränkt sind.
Diese Verschränkungen sind alt, komplex und schmerzhaft: Sie gehen zurück auf den europäischen Kolonialismus und noch heute verbinden uns asymmetrische Machtbeziehungen in Politik und Wirtschaft, von denen vor allem wir im globalen Norden profitieren. Zugleich passen diese Verhältnisse nur schwer in unser Welt- und Selbstbild, auch wenn sie keine Nebeneffekte sind, sondern zum Fundament unserer Gesellschaft gehören.

Gewalt im Herzen der Wertegemeinschaft angekommen

Die politische Rhetorik der Verantwortlichen, die nun wortreich von Gewaltexzessen sprechen, verdeckt, dass der Skandal der europäischen Grenzpolitik nicht im zum Massengrab gewordenen Mittelmeer und auch nicht in den griechischen Lagern endet, sondern schon lange im Herzen Europas angekommen ist. Außergewöhnlich ist im Kontext dieses Systems nicht die Gewalt, außergewöhnlich ist nur, dass die Gewalt gegen das bloße "Wir sind hier" unter den Augen Mariannes so offen zutage tritt. Damit können wir der Frage, wer wir eigentlich sind und wie wir zusammenleben wollen, nicht mehr so einfach ausweichen.

Robin Celikates ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Erforschung des zivilen Ungehorsams und forscht zu Fragen gesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen, zur Demokratietheorie und Kritischen Theorie.

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