Radikalisierung in Online-Communities

Auf extreme Weise Tabus brechen

16:18 Minuten
Ein Mann mit schwarzer Kapuze und verschattetem Gesicht sitzt vor einem Laptop.
(Rechts-)Radikale lassen im Netze alle Hemmungen fallen, wenn es um Hetze gegen Andersdenkende geht. © Eyeem / Kritsada Seekham
Sebastian Meineck und Vera Linß im Gespräch mit D. Kogel und M. Herbstreuth · 12.10.2019
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Welche Rolle spielen das Internet, rechte Netzwerke und Online-Communities für rechtsextreme Terroranschläge wie dem in Halle? Wenn man dem Medium die alleinige Verantwortung übertrage, komme man zu Fehlschlüssen, sagt der Journalist Sebastian Meineck.
"Mein Name ist Anon", sagte der Täter von Halle auf Englisch in seine Kamera. "Anon" steht für Anonymous, so wie sich die Nutzer der anonymen Foren 4chan oder 8chan nennen. Mit einem Livestream seines Anschlags auf der Gaming-Plattform Twitch hatte er anscheinend darauf gehofft, ein Publikum zu finden. Doch nur wenige sahen den Stream. Umso mehr Menschen schauten dann aber das gespeicherte Video.
Welche Rolle spielen das Internet, rechte Netzwerke und Online-Communities wie 4chan oder 8chan für diese neue Form rechtsextremen Terrors? " Ich glaube, wenn man sagen würdee, 'ein Täter hat sich im Internet radikalisiert', ist das höchstens ein Teil der Wahrheit. Denn am Ende radikalisieren sich Menschen durch Menschenhass, Rassismus, Rechtsextremismus und benutzen dafür das Internet", sagt Sebastian Meineck. Er ist Tech-Redakteur bei Vice und schreibt über Online-Communities und Extremismus.

Verkünstelte Form von Hetze

Trotzdem gebe es eine Mitverantwortung: "Ich finde, die Kommunikation auf 4chan und 8chan ist verstörend und verwirrend. Ironie, Zynismus, falsche Identitäten – das ist eine nahezu verkünstelte Form von Hetze, die das sehr, sehr schwierig macht zu erkennen: Was ist da eigentlich ernst und wahr? " Solche Foren hätten eine soziale Funktion, nämlich die ideologische Bestätigung in einer Peergroup, sagt Meineck.
"Die Dinge, die da geschrieben werden, sind nicht einfach nur blanker Menschenhass, sondern ein rhetorisch ausgefeilter Menschenhass." Dahinter stecke auch ein Wettbewerb. Es werde denen applaudiert, die auf besonders extreme Weise Tabus brechen. "Und ich glaube, die Nutzerschaft splittert sich auf in Leute, die das als eine perverse Art von Sport sehen, und vielleicht auch eben in Leute, die das durchaus als Klartext meinen", sagt der Internet-Experte. "Der Täter von Halle hat den Anschlag auf der Streaminglattform Twitch übertragen und wie in einem Spiel Ziele formuliert – deshalb wurden auch Verbindungen in die Gamingszene gezogen." Das heiße aber nicht, dass man dann umgekehrt kausal schließen könne, dass Gaming etwas mit Rechtsextremismus zu tun habe. Die Täter nähmen bewusst Bilder und Anleihen aus zum Beispiel Ego-Shootern, weil sie wüssten, dass sie damit Aufmerksamkeit erzeugen.
Sebastian Meineck, Tech-Redakteur VICE
Man könne nicht allein das Medium Internet für Radikalisierung und Terror verantwortlich machen, sagt der Journalist Sebastian Meineck.© Sebastian Meineck
Auch wenn sich der Täter im Internet radikalisiert habe und seine Tat im Netz verbreitete, sei es falsch, das Internet dafür verantwortlich zu machen, betont Meineck. "Rechtsextreme Gewalt gab es schon vor dem Internet und die hätte es in anderer Form auch sicher gegeben, wenn das Internet nicht erfunden worden wäre." Wenn man dem Medium die alleinige Verantwortung für die Radikalisierung und den Terror übertrage, komme man zu Fehlschlüssen wie schärferer Onlineüberwachung oder weniger Verschlüsselungsmöglichkeiten.
"Dass Menschen aus irgendeinem Grund ein ideologisch geschlossenes Weltbild entwickeln, rassistisch und rechtsextrem werden, das lässt sich nicht dadurch verhindern, dass man ihre Foren abschaltet oder ihre Chats abhört." Stattdessen sollte außerhalb der Online-Communities für Prävention gesorgt werden mit beispielsweise Antirassismus-Training, Antisemitismus-Training, Aufklärung oder Street Work an Schulen und in Jugendclubs. "Und ich denke auch an Ermittlungsbehörden, aber jetzt nicht unter dem Stichwort 'digitale Überwachung', sondern unter dem Stichwort 'rechtsextreme Netzwerke effektiv aufdecken'. Es ist Zeit für ein Umdenken", fordert Meineck.

Berichterstattung über Terror

Er bezeichnet die Art, wie der Terroranschlag in Halle ablief, als "Medienhack", da er vom Täter sehr öffentlichkeitswirksam vorbereitet und verbreitet wurde. Doch wie sind die Medien dann mit diesem Material umgegangen? Die Medienjournalistin Vera Linß stellt fest: "Es gibt ein Unwohlsein darüber, wie jetzt berichtet wird." Es werde kritisiert, dass zu viel über die Täter geredet werde.
Es gebe zwar seitens der Medien ein stärkeres Reflektieren über Terrorberichterstattung, doch nicht alle Medien würden sich daran beteiligen. Die meisten Medien hätten das Video, das der Täter von sich selbst gemacht hat, nicht gezeigt. Und nur Ausschnitte gebracht, die Aufnahmen des Täters von hinten, aufgenommen von Augenzeugen, zeigen. Doch bei bild.de wurden Ausschnitte des Videos, in denen der Täter sich selbst filmt, online gestellt. Linß kritisiert: "Bild" und bild.de hätten dem Täter viel Platz eingeräumt und ihm eine Bühne gegeben.

Medienkodex für den Umgang mit Terroranschlägen

Ihre These: "Wir brauchen eine andere Kultur, über die Opfer zu berichten. Das betrifft ja nicht nur den unmittelbaren Zeitpunkt einer Tat, sondern auch die Zeit danach." Als Beispiel nennt die Journalistin die Berichterstattung über die Terrorgruppe NSU, wo jahrelang die Täter gezeigt wurden, den Opfern aber nur wenig Raum gegeben wurde und diese mit dem Begriff "Dönermorde" sogar sprachlich abgewertet wurden. Linß empfiehlt einen Kodex für den Umgang mit Terroranschlägen – bezweifelt aber, dass er in der deutschen Medienlandschaft umsetzbar ist.
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