Antje Yael Deusel, Rocco Thiede: "Reginas Erbinnen"
Verlag Hentrich & Hentrich, Leipzig 2021
212 Seiten, 19,90 Euro
Wegweisende Frauen im Porträt
10:05 Minuten
Über die erste deutsche Rabbinerin Regina Jonas hat Rocco Thiede bereits häufig veröffentlicht. Nun stellt der Journalist in seinem Buch "Reginas Erbinnen" aktuelle Rabbinerinnen vor. Dass es sie gibt, ist für viele immer noch eine Neuigkeit.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Thiede, wie war das, als einziger Mann mit Frauen über Frauen zu schreiben?
Rocco Thiede: Ja, gut. Es hat eben etwas damit zu tun, dass ich einerseits dieses Buch angeregt habe, durch meine publizistische und journalistische Arbeit, und andererseits geht es natürlich um das Thema Frauen. Es war für mich natürlich eine Freude und Ehre, dieses Buch dann auch zusammen mit einer Frau, und zwar mit Rabbinerin Antje Yael Deusel aus Bamberg, herauszugeben.
Es war sehr spannend für mich, in ein Feld hineinzugehen, wo ich 2014 zum ersten Mal eine Reportage für den RBB zum Thema "Ich will Rabbinerin werden" gemacht habe.
Ein langjähriges Buchprojekt
Deutschlandfunk Kultur: Kann ich das so verstehen, dass das Buch letztendlich ein Sammelsurium ihrer Arbeit darstellt?
Thiede: Nein, so kann man das nicht verstehen. Es ist sicherlich aus meiner jahrelangen Arbeit hervorgegangen, das ist richtig, weil ich immer wieder auch mit dem Thema "Rabbinerinnen in Deutschland" zu tun hatte. Ich habe alle diese Frauen im Rahmen dieser Recherche zum Buch kennengelernt. Mit einigen hatte ich vorher auch schon Kontakt.
Es ist auch so, wenn sie mal durchgezählt haben: Es sind über 20 Frauen in Deutschland bisher ordiniert worden oder haben mit Deutschland etwas zu tun. Im Buch haben wir etwa die Hälfte davon versammelt. Das heißt, das Buch hätte durchaus auch noch umfangreicher werden können, aber einige der Rabbinerinnen sind jetzt nicht mehr in Deutschland. Andere hatten auch gesagt: "Na ja, es ist zwar interessant, aber jetzt gerade will ich nicht dabei sein."
Ich glaube aber schon, dass wir die Rabbinerinnen, die wegweisend waren, im Buch porträtiert haben. Ich denke da zum Beispiel an Bea Wyler. Eine Frau, die in der Schweiz geboren wurde, die auch bis heute darauf besteht, nicht "Rabbinerin" sein zu wollen, sondern "Frau Rabbiner". Das hat auch etwas damit zu tun, dass sie aus einer gewissen Tradition kommt, dass sie damals in Oldenburg und Braunschweig Pionierarbeit geleistet hat. Es gibt ja auch viele Geschichten um ihren schweren Weg, und sie hat für nachfolgende Generationen auch viele Wege geebnet.
Man muss dazu wissen, das Buch ist über viele Jahre entstanden. Das heißt, irgendwann habe ich gemerkt, da ist so viel Potenzial dahinter, da müsste man eigentlich ein Buch daraus machen. Und über einzelne Rabbinerinnen, oder von einzelnen, gibt es ja auch schon Bekenntnisse und auch publizistische Dinge. Ich denke besonders an Elisa Klapheck, die ja auch schon selber geschrieben hat, wie sie Rabbinerin geworden ist.
Aber über die allermeisten gibt es so gut wie gar nichts. Also, es gibt hier und da mal einzelne Beiträge. Ich habe angefangen zu recherchieren, und im Rahmen dieser Recherche bin ich dann wirklich auch mit diesen Rabbinerinnen, mit diesen Frauen näher ins Gespräch gekommen. Ich habe sie dort besucht, wo sie in der Regel ihre Gemeinden hatten und wirken oder wo sie heute leben.
Bei Frau Wyler bin ich in die Schweiz gefahren und habe sie in ihrem Privathaus besucht oder bei Irit Shillor, die ich noch in Hameln kennengelernt habe, als sie ihr Gemeinderabbinat an Ulrike Offenberg übergeben hat, da war ich damals dabei, und habe sie in der Nähe von London besucht, wo sie heute in ihrer Gemeinde nördlich von London tätig ist.
Das war ein Prozess über mehrere Jahre. Und insofern würde ich sagen: Sammelsurium - nein, das ist es sicherlich nicht!
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben sich entschieden, fünf Grußworte zu veröffentlichen. Ist das eine politische Entscheidung gewesen, damit sie allen gerecht werden konnten?
Thiede: Also ich muss sagen diese fünf Grußworte am Beginn des Buches, das mag jetzt im ersten Moment für Außenstehende etwas "too much" wirken. Für mich, und ich glaube auch für meine Mitherausgeberin Rabbinerin Dr. Antje Yael Deusel, war es durchaus eine sehr große Würdigung, weil es gelungen ist, die Rabbinerinnen zu versammeln, von liberal bis orthodox, die die ersten Frauen waren.
Das, was sie in aller Kürze geschrieben haben, was sie dem Buch als Begleitung im Text mitgegeben haben, war für mich am Ende das schönste Dankeschön, was wir bekommen haben. Denn aus diesen Zeilen spricht einfach eine große Anerkennung für die Arbeit, die wir geleistet haben, wo es lange, lange Jahre gar keine Rabbinerinnen gab und wo viele auch gar nicht wussten, dass es überhaupt Rabbinerinnen gibt. Diese ersten Frauen, ob nun in den USA lebend oder in anderen Ländern, dass sie dort dieses Vorwort beigesteuert haben, war eine, aus meiner Sicht, ganz tolle und eigene Leistung für dieses und von diesem Buch.
Dinge, die vorher nicht klar waren
Deutschlandfunk Kultur: Sie beschreiben in Ihrem Buch aber nicht nur Geschichten von Frauen, nicht nur weibliche Geschichten, nicht nur feministische Geschichten. Was steht da noch zwischen den Zeilen?
Thiede: Ja, das ist das Spannende. Es ist so, dass einige Rabbinerinnen, über die man schon das eine oder andere wusste, durchaus auch Dinge bekannt gegeben haben, die vorher nicht so klar waren und bekannt waren. Beispielsweise über unerfüllte Kinderwünsche oder wie man Partnerschaft lebt, wie man sie gelebt hat und heute lebt, wie man Kindern Grundlagen des Judentums vermittelt, ob es nun um koschere Lebensweise geht, ob es nun darum geht, wann die Religionsmündigkeit Eintritt et cetera.
Ich habe das Glück gehabt, dass ich in den Gemeinden auch bei vielen Ereignissen und bei Hochfesten als Gast dabei sein durfte. Durch diese Beobachtungen und Beschreibungen sind die Reportagen entstanden - über einen längeren Zeitraum, in dem auch die Rabbinerinnen beim Gegenlesen Sachen ergänzt haben oder bei denen sie gesagt haben: "Nein, das ist mir zu privat." - also ein längerer Prozess.
Die Leserin und der Leser werden viele Anregungen finden in diesem Buch. Ich hoffe auch von Dingen, über die sie sagen: "Ach, interessant. Das wusste ich so noch nicht."
"Alle Aspekte des heutigen modernen jüdischen Lebens"
Deutschlandfunk Kultur: Ist Ihr Buch eigentlich nur für Frauen bestimmt?
Thiede: Das hoffe ich nicht, dass es nur für Frauen bestimmt ist. Ich glaube schon, dass es vor allen Dingen auch viele Frauen lesen werden, weil es natürlich auch Frauen anspricht, die sagen: "Mensch, ich wusste gar nicht, dass es überhaupt Rabbinerinnen gibt." Das höre ich immer wieder, wenn ich unterwegs bin - selbst auf Buchmessen in Frankfurt und Leipzig - und man fragt: "Was machst du denn gerade?" "Ach, ich schreibe jetzt gerade ein Buch über Rabbinerinnen" "Wie Rabbinerin? So was gibt es? Frauen im Judentum, im geistlichen Amt?"
Und ich wurde immer wieder auch bestärkt von Menschen und von Leserinnen, die gesagt haben: "Auch spannend, mach das! Das will ich unbedingt lesen!" Wie gesagt, die Geschichte hinter dem Buch ist auch ein langer Prozess, und am Ende, glaube ich, hat es sich gelohnt und ich hoffe, es wird sich auch sehr lohnen für Leserinnen und Lesern. Vor allen Dingen, das möchte ich auch dazu sagen, für junge Menschen!
Denn es war unser Anspruch, auch einen Teil Aufklärung zu leisten. Es sollte aus dem Leben aus den Gemeinden heraus erzählt werden und von dem, was die Rabbinerinnen erlebt haben. Und da werden letztendlich alle Aspekte des heutigen modernen jüdischen Lebens angesprochen. Ob es nun um Brauchtum geht, Hochzeiten, Trauerbewältigung. Wir haben nichts ausgelassen und ich hoffe, wir haben am Ende auch nichts vergessen.
Beeindruckendes und Berührendes
Deutschlandfunk Kultur: Welche Geschichte hat sie denn ganz persönlich berührt?
Thiede: Das ist gar nicht so einfach zu sagen, weil ich ja wirklich oft den direkten Kontakt zu den Rabbinerinnen vor Ort hatte. Ich muss sagen, jedes Mal, wenn wir diese Gespräche geführt haben und wenn ich dann das Band laufen ließ und dann teilweise im Abstand von Wochen die Texte aufgearbeitet habe, sie zurückgeschickt habe an die Rabbinerin… Diese Geschichte oder jene ist mein Favorit - das kann ich gar nicht so sagen.
Ich hatte zu einigen intensiveren Kontakt und zu anderen weniger. Also es gab eben durchaus Rabbinerinnen, die habe ich nur ein oder zwei Mal getroffen, und andere habe ich häufiger besucht. Es hat sich wirklich eine längere gute Beziehung ergeben zur Rabbinerin Alina Treiger.
Sie war die erste Frau, die nach Regina Jonas in Deutschland ordiniert wurde. Da hat mich zum Beispiel besonders beeindruckt, wie sie mit jungen Menschen umgeht. Wie sie versucht, junge Menschen - auch mit moderner Musik - an das Gemeindeleben zu binden.
Aber genauso hat mich natürlich beeindruckt das, was meine Mitherausgeberin Rabbinerin Deusel macht. Sie ist ja gerade in diesen Zeiten doppelt systemrelevant. Sie ist Urologin, Ärztin und Seelsorgerin. Diesen Aspekt, der gerade in Coronazeiten eine wichtige Rolle spielte, den haben wir auch in das Buch aktuell einfließen lassen.
Natürlich auch Geschichten von Rabbinerinnen, deren Familien mit dem Holocaust zu tun hatten. Das fängt bei Frau Professor Klapheck an, geht über die Rabbinerin Irit Shillor und im Buch finden wir da einige Beispiele, wo auch in den Familien diese Verluste und diese schlimme Zeit erlebt werden mussten. Da habe ich auch schon gemerkt, wenn man das quasi hört, auch wenn es die Nachfolgegeneration ist, aber aus diesem berufenen Munde - das hat mich auch sehr, sehr berührt.