Psychoanalytiker Alfred Adler

Mit "Gemeinschaftsgefühl" gegen egozentrische Neurosen

10:00 Minuten
Der Psychoanalytiker Alfred Adler (1870−1937) in Boston 1935
Scharfe Zurückweisung des Urvaters Freud: Alfred Adler zeigte der Psychoanalyse eine neue Richtung. © picture alliance / IMAGNO / Austrian Archives
Alexander Kluy im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 01.02.2020
Audio herunterladen
Erstaunlich zeitgenössisch sei das Werk von Alfred Adler, meint sein Biograf Alexander Kluy. Der Wiener Psychoanalytiker habe untersucht, wie der Einzelne eine bessere Welt mitgestalten könne. Adler habe dafür Begriffe wie "Ich-Sicherheit" und "Selbstwertgefühl" geprägt.
Alfred Adler (1870-1937), neben Sigmund Freud und C. G. Jung einer der Urväter der modernen Psychologie, ist der Begründer der Individualpsychologie. Vor 150 Jahren wurde er in der Nähe von Wien geboren.
Adler setzte sich 1911 scharf von Freud als Übervater der Psychoanalyse ab. Er wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen.
Sein Biograf, der Journalist Alexander Kluy, zeichnet nun Adlers Leben nach, eingebettet in die Zeitgeschichte und aktuelle Forschungserkenntnisse. Er betont die heilende Wirkung von dessen Theorien, die "ganz erstaunlich zeitgenössisch" seien.

Gemeinschaftsgefühl als Ziel

Adler habe interessiert, wie sich der Einzelne in die "große Gemeinschaft" einbringen und diese zu etwas "viel Besserem" formen könne, sagt Kluy. Das Gemeinschaftsgefühl habe er dabei als Gegenbegriff zu "Machtkultur" und "Herrschgier" verstanden.
"Bei ihm ist das Gemeinschaftsgefühl ein zutiefst ethisches Gefühl, das die egozentrische Neurose überwindet und am Ende auf eine geradezu ideale Gemeinschaft abzielt", sagt Kluy. "Das war ja ohnehin das, was die Individualpsychologie so auszeichnete, nämlich die Zielgerichtetheit auf etwas Ideales."
Zentrale Begriffe in Adlers Theorie seien "Sicherheit, also die Ich-Sicherheit, das Selbstwertgefühl und das Gemeinschaftsgefühl des Einzelnen im Verhältnis zur großen Gemeinschaft", so der Buchautor. Mehr als ein Vierteljahrhundert lang habe der Psychologe diese Begriffe sehr differenziert ausgearbeitet und bereits zu Lebzeiten ein großes Publikum gefunden.

Neurotiker tragen nicht zu besserer Welt bei

Neurotiker und Egoisten seien nach dieser Theorie schlechte Charaktere. Sie seien "Antifiguren", die sich der Gemeinschaft verweigerten und daher nicht zum Besserwerden der Welt beitrügen. Das Gemeinschaftsgefühl sei stattdessen der "Wunschzustand", den es zu erreichen gelte.
Unter Neurose verstehe Adler daher den Rückzug aus dem "Common Sense" in eine Privatlogik. Je geringer das Gemeinschaftsgefühl beim Einzelnen ausgeprägt sei, desto größer der Grad der Neurose.
"Und dieses Gemeinschaftsgefühl war bei ihm etwas, das wie alle Gefühle - so wie Liebe oder Zuneigung - a priori da ist, das man nicht extra schaffen muss, das auch nicht der eigene Wille erzeugt", erklärt Kluy. Um ein guter, ein besserer Mensch zu werden, sei es notwendig, sich auf dieses Gemeinschaftsgefühl hin zu bewegen. Adler habe dabei die "Bewegung" auf etwas Besseres hin betont, ihm sei es nicht um "Überwindung" gegangen.
Das Gemeinschaftsgefühl oder der Common Sense sei bei Adler ein "Wirklichkeitssinn", sagt der Adler-Biograf Kluy. "Und das ist ein ganz sinnliches Gefühl. Es ist unbewusst oder auch kaum bewusst in jedem Menschen vorhanden."
(huc)

Alexander Kluy: Alfred Adler – Die Vermessung der menschlichen Psyche
Deutsche Verlags-Anstalt, 432 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema