"Proxima"-Regisseurin Alice Winocour

Eine andere Vision des Weltalls

11:35 Minuten
Der Countdown läuft: Sarah (Eva Green) und Stella (Zélie Boulant-Lemesle) können sich nur noch durch eine dicke Glasscheibe verabschieden.
Eva Green muss sich in "Proxima" von ihrer Tochter und von "Mutter Erde" verabschieden. "Ich fand das poetisch", sagt die Regisseurin Alice Winocour. © Koch Films
Alice Winocour im Gespräch mit Susanne Burg · 26.06.2021
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Für den Weltraumfilm "Proxima" recherchierte Alice Winocour auf schwer zugänglichem Militärgelände. Im Gespräch erzählt sie, was sie dabei lernte und warum es für Eva Green einfacher war, in einer Zentrifuge zu sitzen, als eine Mutter zu spielen.
Susanne Burg: Allmählich machen die Kinos wieder auf. Zu den ersten gezeigten Filmen zählt der Weltraumfilm "Proxima": Eva Green spielt die junge Astronautin Sarah, die als erste Frau den Mars erforschen will. Als sie für die einjährige Weltraummission Proxima ausgewählt wird, beginnt für sie ein hartes Training auf der Erde.
Der Film zeigt sie bei ihrer Vorbereitung für den Aufbruch ins All, bei Pressekonferenzen, sportlichen Belastungstests, in einer Zentrifuge und bei Unterwassersimulationen. Nur eine Sache kann sie nicht trainieren: den Abschied von ihrer Tochter Stella.
Die Französin Alice Winocour hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Warum haben sie gerade eine Astronautin gewählt, um die Frage nach der Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie zu stellen?
Alice Winocour: Ich fand es interessant, mir vorzustellen, dass Astronauten den Planeten verlassen und von der Mutter Erde getrennt werden. Ich fand es poetisch, dass es eine Mutter gibt, die sich von ihrer Tochter und gleichzeitig von der Mutter Erde trennen muss. Da gab es für mich eine Parallele.
Porträt von Alice Winocour, 2019.
Im Gespräch: die Filmemacherin Alice Winocour.© imago / Future Image / C.Niehaus
Außerdem: Wenn eine Rakete gestartet wird und die Erde verlässt, heißt es wirklich: "Umbilical separation", also Trennung der Nabelschnur. Das steht unter anderem im russischen Protokoll. Das ist eine sehr reale Metapher.

Rivalität zwischen Astrophysikern und Astronauten

Burg: Im Film ist es schwer für die Mutter, Sarah, sich von ihrer Tochter Stella zu trennen und weit weg zu sein. Für Sarah ist es auch schwer, dass ihre Tochter größer und selbständiger wird und sie nicht dabei ist. Man kann von einem Kind kaum weiter weg sein als im All. Wie sehr wollten Sie auch mit der Idee von Nähe und Distanz spielen?
Winocour: Ich war vom Schreiben bis zum Schnitt wirklich besessen von der Idee. Ich wollte das unendlich Kleine dem unendlich Großen gegenüberstellen. Auf der einen Seite die fragile Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die eine Liebesgeschichte ist, die kleinen Dinge, wenn die Tochter für ihren Mathetest lernt und die Mutter nicht dabei sein kann.
Auf der anderen Seite die Galaxie und die Planeten. Es findet sich auch schon im Titel "Proxima". Nächstgelegen. Proxima Centauri ist der Nachbarstern, aber Lichtjahre entfernt. Im Spanischen heißt es auch "der Nächste". Dann gab es auch die Idee der Übermittlung und des Weitergebens, also die Frage, was du an deine Tochter weitergibst.
Burg: Damit verbunden ist auch ein Ausloten von Distanz und Nähe, von Geben und Loslassen – was auch einen großen Teil des Elternseins ausmacht.
Winocour: Ja, dazu gehört auch, dass der Vater in die Beziehung hinein darf. Wir sehen Lars Eidinger, der den Vater spielt, wie er am Anfang seine Tochter kaum kennt und ihr auch kaum Aufmerksamkeit schenkt. Er ist Astrophysiker und interessiert sich eher für Venus und Mars.
Lars Eidinger blickt mit geröteten Augen in den Himmel, während auf seinen Schultern ein Kind sitzt.
Gerührter Blick nach oben: Lars Eidinger spielt in "Proxima" Eva Greens Ehemann.© Koch Films
Ich war inspiriert durch einen wirklichen Astrophysiker aus Frankreich, der mir von der Rivalität zwischen Astrophysikern und Astronauten erzählte. Das spiegelt sich in der Beziehung mit Sarah wider.
Als Mutter willst du manchmal die Kontrolle über dein Kind behalten und du hast Angst, es abzugeben. Ich erzähle im Film, dass der Vater es anders macht, aber er macht es gut. Ich konnte mich beim Schreiben gut mit Sarah identifizieren, denn ich bin auch eine Mutter. Aber ich konnte auch Stella nachvollziehen. Sie befreit sich von ihrer Mutter.

Zehn Prozent Frauenanteil unter Astronauten

Burg: Es gibt die eine Geschichte zwischen Sarah und Stella, aber dann gibt es auch die Arbeit von Sarah. Sie nimmt einen großen Teil im Film ein. Sarah ist eine der wenigen Astronautinnen, die es in der Branche gibt. Als sie ihren männlichen Teamkollegen vorgestellt wird, macht einer eine recht chauvinistische Bemerkung und sagt: Französische Frauen sollen ja gute Köchinnen sein. Sie haben auch viel recherchiert. Was haben Sie erfahren? Wie viel Chauvinismus und Sexismus gibt es in der Branche?
Winocour: Meine Erfahrung war: Astronautinnen und Astronauten beklagen sich nicht, vor allem Frauen nicht. Es hat lange gedauert, bis ich dann doch von sexistischen Bemerkungen gehört habe.
Eva Green und Matt Dillon diskutierten an einem Tisch.
Schlagabtausch: Eva Green und Matt Dillon im Film "Proxima"© Koch Films
Die Konkurrenz in der Branche ist riesig und die Selbstzensur groß bei Frauen. Nur zehn Prozent der Astronauten sind Frauen. Das liegt nicht daran, dass sie nicht so gut sind, sie trauen es sich häufig erst gar nicht zu.
Frauen haben noch immer das Gefühl, dass sie sich zwischen ihrer Karriere und ihrem Kind entscheiden müssen, vor allem in diesen konkurrenzbetonten Jobs. Es gibt im Deutschen ja den Begriff "Rabenmutter", Mütter, die ihr Kind zurücklassen. Ich finde das ein ziemlich brutales Bild.

Astronautinnen wollen ihre Feminität nicht verstecken

Burg: Im Film zeigen Sie Sarahs Kollegen. Einer hat zwei Kinder und offensichtlich kein Problem damit, sie zurückzulassen und ins All zu fliegen.
Winocour: Eine Trainerin bei der ESA in Köln hat mir erzählt, dass ihr die Männer in der Regel sofort Fotos von ihren Kindern gezeigt und gesagt haben, wie stolz sie sind. Bei einer Frau hat es ein halbes Jahr gedauert, bis die Trainerin überhaupt erfuhr, dass sie Kinder hat. Ich glaube, es ist nach wie vor schwer für Frauen, sich um die Familie zu kümmern. Sie haben das Gefühl, sie müssen beweisen, dass sie auch in solchen Arbeitsfeldern bestehen können.
Dieses Verschweigen hat mich interessiert. Daher habe ich in den Abspann auch Familienfotos von realen Astronautinnen montiert. Ich habe mich mit vielen Astronautinnen unterhalten und sie dann gefragt, ob sie mir Fotos von sich und ihren Kindern geben können. Denn solche Fotos sieht man nie. Sie sind versteckt.
Eva Green steht in Astronautenmontur in einem See und lächelt zur Kamera
Vorbereiten auf den Abschied: Eva Green im Film "Proxima"© Koch Films
Mich interessieren Geschichten, die noch nicht erzählt wurden, Themen, über die Frauen häufig nicht reden. Dazu gehört auch das Thema Menstruation. Uns wird vermittelt: Kümmert euch, aber redet nicht darüber. Ich finde, es ist Zeit, dass sich das Kino dieser Fragen annimmt, denn es macht einen großen Teil des weiblichen Lebens aus.
Burg: Sie haben auch viele Details in den Film integriert, was es bedeutet, ins All zu fahren. Weil Sie das Menstruieren erwähnen: Eine Frage, die Sarah beantworten muss, ist, ob sie Tampons mit ins All nehmen oder ob sie ihre Tage medikamentös unterdrücken möchte. Wie wichtig waren Ihnen all diese Details?
Winocour: Ich bin der Meinung, dass man in den Details viel versteht. Viele Frauen müssen um ihre Weiblichkeit im All kämpfen. Lange Haare zum Beispiel sind sehr unpraktisch und eben auch die Menstruation. Ich fand es schön, dass viele Frauen nicht ihre feminine Seite wegsperren wollten.
Und ja, wenn ich schreibe, sind mir solche Details wichtig. Das war auch schon bei "Mustang" so, dem Film, den ich zusammen mit Deniz Gamze Ergüven geschrieben habe. Da haben wir viel mit Ärzten in der Türkei gesprochen. Das ist wichtig. Denn die Realität ist manchmal schlimmer, als man es sich ausdenken kann. Manchmal wiederum muss man sich etwas Realistisches ausdenken, weil die Realität nicht glaubwürdig ist.

Zahlreiche Recherchen vor Ort

Burg: In "Proxima" sieht man auch, dass Sie Zugang zur Europäischen Weltraumorganisation ESA bekommen haben. Wie haben Sie dort recherchiert und wie zugänglich waren die Orte?
Winocour: Es war harte Arbeit, die entsprechenden Genehmigungen zu bekommen. Anfangs dachten sie, ich sei Journalistin und würde zwei oder drei Mal kommen. Aber ich habe sehr viel Zeit bei der ESA in Köln verbracht, um Astronauten und Astronautinnen und ihre Trainer zu treffen.
Ich bin auch mit ihnen nach Star City gereist, wo das russische Ausbildungszentrum ist. Mit ihrer Hilfe bin ich auch in die Militärstützpunkte gekommen, zu denen man wirklich schwer Zugang bekommt. In Kasachstan habe ich einen Raketenstart gesehen. Ich musste das alles recherchieren, bevor ich angefangen habe zu schreiben, um zu sehen, ob das alles überhaupt realisierbar ist, denn ich konnte kein Set bauen.
Wir mussten wirklich vor Ort drehen. Es wurden zwar schon Dokumentarfilme auf dem Gelände der ESA und von Star City gedreht, aber noch nie ein Spielfilm. Wir kamen mit den Schauspielern. Es war neu für die dort Arbeitenden, aber sie haben verstanden, dass ich das reale Leben von Astronauten zeigen will - und sie haben uns unterstützt.

Hartes Training

Burg: Eva Green spielt Sarah, die diese emotionale Seite hat, dass sie von ihrer Tochter getrennt ist. Aber es gibt auch die körperliche Seite der Arbeit, das ungeheuer harte Training. Sie zeigen, wie sie trainiert, härter als ihre männlichen Kollegen. Wie haben Sie mit Eva Green an diesen beiden Seiten der Figur gearbeitet?
Winocour: Es war ein langer Prozess. Wir haben viele Astronauten und Astronautinnen in Köln getroffen. Eva hat mit russischen Trainern trainiert. Die haben sie wie eine richtige Astronautin behandelt. Sie waren sauer, wenn sie etwas nicht geschafft hat und haben sie angeschrien. Es war lustig, weil sie für sie nicht Eva Green war, sondern irgendeine beliebige Astronautin. Sie hat auch sehr an ihrem Körper gearbeitet, um all die Muskeln zu bekommen, die sie bei den anderen Astronautinnen gesehen hatte.
Eva Green sitzt in einer komplexen technischen Apparatur und trainiert für den Flug ins All.
Hartes Training: Eva Green in"Proxima".© Koch Films
Für die Szenen in der Zentrifuge und im Pool haben wir mit Special Effects gearbeitet, denn das ist zu hart für den Körper. Dafür muss man wirklich Astronautin sein. Eva Green hat sich nie über diese körperliche Arbeit beschwert. Aber es war hart für sie, die Mutter zu spielen. Sie hat keine Kinder. Sie hatte immer das Gefühl, dass sie nicht glaubwürdig ist. In einer Zentrifuge zu sein, war einfach, aber die Hand ihrer Tochter bei der Verabschiedung zu halten, das war schwer. Es ist aber auch der Weg der Figur, dass sie am Ende sehr menschlich wird.

Bild des Weltraums von US-Kino geprägt

Burg: Wir haben über die vielen Details gesprochen, den Blick auf die Arbeit, also die sehr geerdete Anmutung des Films. Das ist ein sehr anderer Ansatz als von vielen US-amerikanischen Weltraumfilmen, die häufig Actionfilme im All sind. Inwiefern war das von Ihnen auch ein bewusster Gegenentwurf zu solchen Filmen?
Winocour: Die Amerikaner besitzen inzwischen ein Monopol darauf, wie der Weltraum im Film dargestellt wird. Der Weltraum ist für uns durch das Kino amerikanisch. Aber es gibt viele andere Weltraumorganisationen. Die ESA ist eine sehr große, die russische ebenfalls. Ich wollte eine andere Vision des Weltraums zeigen.
In der amerikanischen Sichtweise ist der Weltraum gefährlich und voller Gewalt, ohne Platz für Zerbrechlichkeit. Ich habe das sehr anders erlebt, sogar mit amerikanischen Astronautinnen und Astronauten. Sie zu sein, bedeutet zu erleben, wie fragil und verletzlich der menschliche Körper ist.
Ich wollte das zeigen, auch aus der Sicht der Frau. Es ist das Gegenteil von dem, was ich in amerikanischen Filmen sehe.
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