Protestliteratur früher und heute

Aufrufe zur Revolte - von Boétie bis Quinn

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Das Bild zeigt eine große Schüler-Menschenmenge, viele halten Schilder mit Plakaten in den Händen.
Die heutige Jugend geht wieder auf die Straße: Schon im 16. Jahrhundert rief der Nachwuchs zur Revolte auf. © Kay Nietfeld/dpa
Von Sieglinde Geisel · 23.04.2019
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Die junge Generation protestiert wieder. Doch schon im 16. Jahrhundert wurde von dem erst 18-jährigen Étienne de la Boétie zum Ungehorsam und zur Revolte aufgerufen. Wir stellen vier Klassiker der Protestliteratur vor.

"Friede den Hütten! Krieg den Palästen!"

Der "Hessische Landbote" ist eine achtseitige Flugschrift, die Georg Büchner 1834 verfasste. Der berühmt gewordene Slogan "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" stammt daraus.
Der Student Büchner war damals gerade aus Straßburg nach Gießen ins Großherzogturm Hessen gekommen, und er war schockiert über die Zustände: Hungernde Bauern auf der einen Seite, auf der anderen Fürsten und Beamten, die von deren Steuern ein Leben führten - "wie ein langer Sonntag".
Der "Hessische Landbote" ist ein aufklärerischer Text, verbunden mit einem Aufruf zur Revolution. Büchner rechnet vor, was die große Mehrheit an Steuern abgeben muss und für welche unsinnigen Dinge die Summeen dann verwendet werden.
Historische Zeichnung von Georg Büchner
Der Dramatiker Georg Büchner© picture alliance / dpa / Sebastian Kahner
Büchner selbst war mit 21 Jahren noch jung, als er diesen Text schrieb. Man spürt den jugendlichen Furor. Außerdem benutzt er eine bildhafte, sehr effektive Rhetorik. Er zieht für seine Argumentation die Schöpfungsgeschichte heran: "Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage, und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht."
Die Bauern und Bürger zählten zum "Gethier", ja zum "Gewürm", über das die Fürsten herrschen dürfen. "Der Boden unter euren Füßen, der Bissen zwischen euren Zähnen ist besteuert. Dafür sitzen die Herren in Fräcken beisammen und das Volk steht nackt und gebückt vor ihnen." Den Anpassern wiederum ruft Büchner zu: "Wehe euch Götzendiener! Ihr seid wie die Heiden, die das Krokodil anbeten, von dem sie zerrissen werden."
In einer Vorbemerkung zum "Hessischen Landboten" warnt Büchner die Leser: Wenn sie mit dem illegalen Flugblatt erwischt werden, sollten sie behaupten, sie hätten es nicht gelesen, sondern ohnehin gleich zur Polizei bringen wollen.
Die Machthaber fühlten sich durchaus bedroht: Büchner selbst wurde danach steckbrieflich gesucht und musste sich nach Frankreich absetzen. Sein Mitverfasser Friedrich Ludwig Weidig wurde verhaftet, gefoltert und starb drei Jahre später unter ungeklärten Umständen.

Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig: "Der hessische Landbote"
Hg. von Gerhard Schaub, Studienausgabe
Reclam-Verlag, 213 Seiten, 4,60 Euro

"Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam"

Aktuell kann man sich in Timothy Snyders "Über Tyrannei" mit Argumenten bedienen: Das Buch enthält "20 Lektionen für den Widerstand", von denen man sich einige tatsächlich wie eine Pille einwerfen kann, um im Bild der Hausapotheke zu bleiben:
"Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam", "Lerne von Gleichgesinnten" oder "Praktiziere physische Politik", heißt es da. Schließlich geschieht politischer Widerstand nicht in den sozialen Medien, sondern im analogen Leben.
Die "Politik der Unausweichlichkeit" sei "ein intellektuelles Koma, in das wir uns selbst versetzt haben", sagt Snyder. Daraus versuchen die "Friday for Future"-Kids uns aufzuwecken.

Timothy Snyder: "Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand"
C. H. Beck, 127 Seiten, 10 Euro

"Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!"

Einen Ansatz zum gewaltfreien Widerstand gibt ein ganz erstaunlicher Text, der fast 500 Jahre alt ist und überdies von einem Jugendlichen geschrieben wurde. Étienne de la Boétie war erst 18 Jahre alt, als er um 1550 die "Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft" schrieb.
Der Text kursierte damals in Abschriften und gelangte auch in die Hände von Montaigne, der daraufhin die Bekanntschaft mit dem Verfasser suchte. De la Boétie wendet sich gegen die Staatsform der Monarchie, und zwar in einem raffiniert naiven Ton: Er wundert sich darüber, dass ein einzelner Mensch über Tausende und Millionen herrschen kann, obwohl er so schwach ist wie alle anderen auch.
Gerade deshalb jedoch ruft de la Boétie nicht zum Tyrannenmord auf: Man muss den Herrscher gar nicht töten, es reicht, wenn man ihm nicht mehr gehorcht. "Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!", so lautet der berühmteste Satz aus dieser Schrift, geradezu ein Aufputschmittel für junge Revolutionäre und zugleich eine Anleitung für den gewaltfreien Widerstand.
Etienne de la Boéties Schrift wurde erst nach seinem Tod gedruckt, sie wurde im 19. Jahrhundert viel gelesen und wird heute gerade wiederentdeckt.

Etienne de la Boétie: "Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft"
Limbus-Verlag, 96 Seiten, 7 Euro

"Wir sterben wie die Fliegen"

Gegen das Argument, dass Jugendliche zu wenig wüssten, um sich eine eigene Meinung bilden zu können, gibt Daniel Quinns Romantrilogie "Ishmael" die Gegenargumente. Der erste Band erschien 1992 in Amerika und war ein Bestseller, auch als Schullektüre. Verwunderlich, dass dieses Werk vergessen ging. Der zweite Band ist auf Deutsch vergriffen und der dritte nicht einmal übersetzt.
Ismael hatte eine Anzeige geschaltet, in der er Schüler "mit einem ernsthaften Bestreben, die Welt zu retten" sucht. Im ersten Band erklärt Ismael seinem etwa 40-jährigen Schüler Alan, wie es dazu kam, dass die Menschen die Erde ruinieren. Darin steckt eine komplette Zivilisationstheorie aus der verfremdeten Sicht der anderen Spezies.
Der zweite Band "Ismaels Geheimnis" ist geradezu visionär im Hinblick auf die "Friday for Future"-Kids. Auf Ismaels Zettel meldete sich die 12-jährige Julie, und Ismael will sie zuerst nicht als Schülerin akzeptieren. Darauf meint Julie, sie sei immerhin alt genug, ein Auto zu klauen, eine Abtreibung zu haben und Crack zu dealen – wo ist also das Problem?
Julie sagt lauter Dinge, die auch Greta Thunberg sagen könnte: "Glaubst du etwa, ich wisse, was die Ozonschicht ist? Aber sie sagen, wir machen Löcher rein und wenn die groß genug sind, sterben wir wie die Fliegen."
Daniel Quinn, der übrigens vergangenes Jahr mit 82 Jahren gestorben ist, engagierte sich für den politischen Wandel, er gab Schulklassen Telefonkonferenzen und erstellte eine Website für den Austausch mit seinen Lesern. Er bekam oft Zuschriften, in denen Leser sagten, dass "Ismael" ihr Leben verändert habe.

Daniel Quinn, Ismael-Trilogie:
Band 1 - Ismael
Aus dem Englischen von Wolfram Ströle
Goldmann-Verlag, 254 Seiten. 10 Euro
Band 2 - Ismaels Geheimnis
Aus dem Englischen von Gloria Ernst
Goldmann-Verlag, 314 Seiten (vergriffen)
Band 3 - The Story of B. Bantam
352 Seiten, 16 Euro (keine deutsche Übersetzung)

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