Protest gegen Rassismus

Der Kniefall als paradoxe Intervention

04:26 Minuten
Spieler beider Mannschaften knien gemeinsam auf dem Rasen am Mittelkreis, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen und sich so solidarisch mit den Demonstranten in den USA und den Protesten weltweit nach dem brutalen Tod von George Floyd zu zeigen.
Zeichen gegen Rassismus: Spieler beider Mannschaften knien vor dem Bundesligaspiel Werder Bremen - VfL Wolfsburg auf dem Rasen. © picture alliance / dpa / Patrik Stollarz / AFP / Pool
Beobachtungen von Sieglinde Geisel · 12.06.2020
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Sich niederknien aus Solidarität mit der Bewegung Black Lives Matter: Warum diese einfache Geste so stark ist, erklärt die Publizistin Sieglinde Geisel – und dass man scheitert, wenn man sie wie die US-Demokraten politisch instrumentalisiert.
Wer auf die Knie geht, macht sich kleiner, als er ist. Deshalb ist der Kniefall eine Geste der Demut, des Respekts, ja der Unterwerfung. Knien tut man vor dem König oder, wenn man katholisch ist, vor Gott. Der Sieger zwingt den Besiegten in die Knie, und wenn wir von etwas überwältigt sind, sagen wir manchmal: "Ich könnte niederknien."

Willy Brandts Kniefall machte Geschichte

Wer freiwillig auf die Knie geht, zeigt seine Verletzlichkeit. Willy Brandts Kniefall in Warschau ging in die Geschichte ein, denn Brandt übernahm damit Verantwortung für eine Schuld, an der er persönlich keinen Anteil hatte, und er setzte damit ein Zeichen für die Haltung Deutschlands zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs.
Das war vor 50 Jahren. Der symbolische Kniefall neueren Datums ist keine Demutsgeste, sondern eine Chiffre des Protests. 2016 blieb der amerikanische Footballspieler Colin Kaepernick während der Nationalhymne sitzen, bei späteren Spielen beugte er sein Knie, andere Sportler taten es ihm nach.
Er protestierte damit gegen die Ermordung schwarzer Amerikaner durch die Polizei. Die Geste zeigte Wirkung. Folgen hatte sie allerdings nur für Kaepernick: Seine Sportkarriere war beendet.

Vor den verletzten Werten knien

Kaepernick kniete nicht vor der Nation. Er kniete vor den Werten, die von dieser Nation verletzt wurden. Er benutzte den Kniefall damit als paradoxe Intervention, ganz nach dem Motto der Bergpredigt: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin." Das Paradox entwaffnet den Gegner buchstäblich: Man kann nicht gegen jemanden kämpfen, der sich niederkniet.
Vor einem Spiel gegen die Dallas Cowboys knien Eli Harold, Colin Kaepernick und Eric Reid (v.l.) während der Nationalhymne, um gegen Rassismus zu protestieren (2.10.2016). 
Protest in der NFL im Jahr 2016: Vor einem Spiel knien Eli Harold, Colin Kaepernick und Eric Reid (v.l.) während der Nationalhymne. © dpa /picture-alliance
In der vergangenen Woche knieten in Amerika nicht nur Sportler und Demonstranten nieder, sondern auch Polizisten. Zum einen brachten sie damit ihre Solidarität mit den Demonstranten zum Ausdruck, gegen die sie eigentlich vorgehen sollten. Zum anderen baten sie um Vergebung für ihre eigene Gewalt. Mit dem Mut zur Demutsgeste bewiesen die Polizisten Stärke, auch das gehört zum Paradox.

Politische Instrumentalisierung misslungen

Paradoxe Interventionen kann man nicht herbeiführen: Mit ihrem Versuch, den Kniefall politisch zu instrumentalisieren, scheiterten die Demokraten kläglich. Unter der Leitung von Nancy Pelosi ließ sich ein Häuflein Abgeordneter 8 Minuten und 46 Sekunden beim Knien filmen – so lange, wie der Polizist auf dem Nacken des erstickenden George Floyd kniete.
Das ist politischer Kitsch, denn der Kniefall bezieht seine subversive Wirkung aus der Macht des Einzelnen, der sein Knie beugt und damit sagt: Ich mache nicht mehr mit.
Macht über andere kann sich niemand nehmen, sie wird ihm gegeben, und zwar von denjenigen, die tun, was er sagt. "Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei", heißt es in einem Text von 1550. In seinem Aufsatz "Von der freiwilligen Knechtschaft" foruliert Étienne de la Boétie, später der engste Freund des Philosophen und Essayisten Michel de Montaignes, das Rezept für den gewaltfreien Widerstand.
Man muss den Tyrannen gar nicht umbringen: Es genügt bereits, nicht mehr zu tun, was er sagt.

Sich klein machen und Größe zeigen

Wer nicht tut, was Donald sagt, fliegt raus, so lautet bekanntlich die Spielregel im Weißen Haus. Trump kennt nur das Gesetz des Zurückschlagens: "When the looting starts, the shooting starts." - wenn das Plündern beginnt, beginnt das Schießen.
Rechte Politiker leben vom Aufschrei der Anständigen, beispielsweise wegen solcher Tweets. Wer dagegen sein Knie beugt, verweigert das Stöckchen – und zeigt Größe, gerade weil er sich klein macht. Damit ist der Kniefall mehr als nur eine Geste. Er ist ein Denkmodell.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Von 1994 bis 2016 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ". Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen.

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