Prosa

Reigen der Augenblicke

Der Schriftsteller und Übersetzer Hans Stilett aufgenommen bei der Frankfurter Buchmesse 2008
Der Schriftsteller und Übersetzer Hans Stilett © picture-alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Sigrid Brinkmann · 02.01.2014
Der Lyriker und grandiose Montaigne-Übersetzer Hans Stilett hat mit 91 Jahren ein biografisches Mosaik veröffentlicht. In "Eulenrod" lässt er seine Kindheit im thüringischen Vogtland wieder auferstehen - ein unmelancholisches Abschiedsbuch.
Ein greiser Mann entsinnt sich des verträumten Jungen, der er war und beschließt, seine ersten Lebensjahre in der thüringischen Provinz "aus dem Dämmer" zu befreien. Er tut dies mit dem sicheren Gespür dafür, dass "der Abschied naht". Hans Stilett hat sein biografisches Mosaik im Präsens verfasst, doch für seine einrahmenden Betrachtungen auf der ersten und der letzten Seite wählte er die vollendete Zukunft. "Kein Zweifel: Ich werde gewesen sein"; so wie auch "die Erde selber gewesen sein wird". Stilett bekennt sich nachdrücklich zu seiner Freude am Dasein. Sie inspirierte alle bruchstückhaft erzählten Ausschnitte dieses aufrichtigen, auf Anekdoten verzichtenden Abschiedsbuches.
Hans Stilett wuchs vaterlos auf. In 24 Miniaturen erzählt er vom Leben bei den Großeltern – Hinterhaus, eine Treppe hoch, Hühner- und Karnickelställe im Hof. Von Streichen mit Freunden, vom Brikettsammeln an Bahngleisen in der Inflationszeit und vom "Kaffekränzchen" der Oma, von Hochzeitsfeiern und Schützenfesten. Oder vom Sterbegeld, das er gegen eine Marke im Beitragsheft für die Oma in "Frau Schindlers Stube" abgab. Er erinnert sich an das Sammeln von Zigarettenbildern und das Klavierspiel des Onkels, der Künstler werden wollte, sich aber mit der Axt am Fuß verletzte, eine Holzprothese erhielt und Tischler wurde. Verstümmelung und Tod sah der Junge früh. Keiner verlor Worte über die Endlichkeit, so wenig wie über die Liebe, die nur in spärlichen Gesten Ausdruck fand.
Zärtliche Erinnerungen
Mit spürbarer Zärtlichkeit denkt Hans Stilett an seine Mutter. Sie verdiente den Lebensunterhalt als Näherin in einer kleinen Textilfabrik und schrieb heimlich an einem "Lebensroman". Sie ist mindestens genauso verträumt wie ihr Sohn, der sich im Alter nicht ohne einen Anflug von Rührung daran erinnert, dass die Mutter erschrak, wenn sie beim Wecken früh am Morgen merkte, dass dieser nur langsam herausfand aus den nächtlichen Traumgespinsten.
Szenen des sinnlichen Erwachens ziehen sich durch den ganzen Text. Der flauschige Stoff über den Brüsten der Frau Stadelmann verführte in Gedanken zum Streicheln. Wenn Lottchen sich zum Pinkeln hinhockte, faszinierte den Jungen der gelbe, gerade Strahl. Er beobachtete genau, wie die Oma leise furzte, und schildert ihre beherzten Versuche, Würmer, die dem Enkel entsetzliches Jucken bereiteten, mit spitzen Fingern aus dem Anus zu picken.
Stiletts Sprache ist immer direkt. Gelegentlich flicht er naiv klingende mundartliche Wörter in seine Erzählung ein. Sie glätten die karge Alltagswelt, ohne die Entbehrungen zu verkleinern. Als Schlussbild des Reigens von Augenblicken wählt er eine gewaltsame Szene mit Streikbrechern, Polizisten, "Rotfront" skandierenden Kommunisten und "Heil Hitler" brüllenden Braunhemden. Wir verstehen, dass die Straßenprügelei das Ende der Kindheit des Erzählers einläutete. "Eulenrod" liest sich, als habe sich Hans Stilett mit diesem Prosabändchen nachträglich noch einmal schützend und lächelnd über das Kind gebeugt, das nach 1933 anders auf die Welt zu schauen begann. Er hat sich und uns ein Geschenk gemacht.

Hans Stilett: Eulenrod
Verlag Antje Kunstmann, München 2013
112 Seiten, 14,95 Euro

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