Stehend und liegend, von vorn und von hinten

18.09.2008
Vor zehn Jahren gelang Hans Stilett das kleine Meisterstück: Mit der ersten modernen Gesamtübersetzung hat er Michel de Montaignes Essais für Leser von heute wieder lebendig gemacht. Auch einen Kommentar kündigte Stilett damals an. Ein Jahrzehnt hat es gedauert, nun ist er da. Dabei herausgekommen sind keine akademischen Erläuterungen, sondern eine überschwängliche Liebeserklärung an diesen einzigartigen Denker des 16. Jahrhunderts - an seine pornografische Derbheit ebenso wie an seine gelassene Klarsicht und unerschütterliche Toleranz.
"In Montaignes Diensten" betitelt Hans Stilett, der im wirklichen Leben Hans Adolf Stiehl heißt, sein Vorwort. Das trifft. Dieser Übersetzer ist Montaigne verfallen, daran ist nicht zu zweifeln. Auf jeder Seite seines Kommentars ist die Leidenschaft für dessen Gedankenwelt zu spüren. Stilett will sie Lesern vermitteln, die vielleicht noch nie in die Essais geblickt haben, und bietet den Kennern eine detailreich belegte und leichtfüßige Gesamtinterpretation: In der bewegten Lebendigkeit von Montaignes Erzählen, im Auf und Ab seiner wechselvollen Gedankengänge sieht Stilett die eigentliche Leistung der Essais, nämlich "Worten die Wirkungsmacht des Lebens einzuverleiben".

Wie sehr es dem Übersetzer gelungen ist, in die Haut und den Stil seines Meisters zu schlüpfen, zeigt sich schon gleich zu Anfang. Mit Montaignes eigener, nur scheinbar simpler, Beschreibung seines Arbeitsplatzes führt Stilett uns an dessen Denken heran. Zum Schreiben zog Montaigne sich am liebsten in den Turm seines Schlosses südöstlich von Bordeaux zurück. In dessen Erdgeschoss befindet sich eine Kapelle, im ersten Stock ein Schlafgemach, darüber die Bibliothek mit einem kleinen Arbeitszimmer, sie ist rund, hat drei Fenster. Die Aussicht, schreibt Montaigne, sei großartig. Im Winter ist sie zwar dem Wind ausgesetzt, doch sie ist abgelegen, hier kann sich der Kammerherr zweier Könige abschotten, von seinem Gesellschafts- und Familienleben, von der anstrengenden Tätigkeit als Vermittler zwischen den verhärteten Fronten des französischen Glaubenskrieges, und sich seinem einzigen Thema widmen, sich selbst:

"Ich zeige mich stehend und liegend, von vorn und von hinten, von links und von rechts: in all meinen natürlichen Stellungen", schreibt Montaigne.

Tatsächlich kann uns Montaignes Selbstdarstellung auch heute noch rückhaltlos erscheinen. Die Unverbrüchlichkeit der Freundschaft, Toleranz gegenüber der Vielfalt der Lebensweisen, die Kunst des Sterbens: Vorbehaltlos und offen denkt Montaigne über diese Themen nach. Ebenso aber berichtet er vom Furzen und Scheißen, vom häufigen Ungehorsam des männlichen Gliedes und seiner eigenen hemmungslosen Esslust. Diese Bodennähe, die Verwurzelungen von Montaignes Denkens in den konkreten Dingen des Lebens, haben über die Jahrhunderte hinweg das Interesse an den Essais wachgehalten. Das weiß Stilett und verfällt an keiner Stelle der Gefahr, aus Montaignes Gedanken eine abstrakt-philosophische Interpretation herausziehen zu wollen und sie so blutleer zu machen.

Montaignes Ergründungen des Lebens, seine philosophischen Betrachtungen und humoristischen Erzählungen laden zur Identifikation ein. Allzu voreilig sind wir vielleicht versucht, die Essais allein als Lebensratgeber zu lesen. Doch je länger wir lesen, desto mehr taucht das Fremde auf, die Eigenheit der montaignschen Welt, die trotz aller gefühlten Nähe fast ein halbes Jahrtausend lang vergangen ist. Dass wir aber so leicht in das Vertraute wie das Fremde dieser Welt Einblick nehmen können, liegt daran, dass Montaigne sie uns erzählend vermittelt, im Gespräch mit seinem Leser. So hält es auch Hans Stilett.

Zu erkennen ist das schon am Druckbild. Keine Anführungszeichen verhindern den gleitenden Übergang in Montaignes Text, die reichlichen Zitate sind lediglich kursiv gedruckt und verschmelzen mit dem Kommentar. Zwischendurch treffen wir auf "Abstecher in die Übersetzerwerkstatt". Dort erläutert Stilett Schwierigkeiten, auf die er beim Übersetzen stieß. Gerade hier zeigt sich, dass man sich durch Stiletts leicht zugänglichen, manchmal fast plaudernden Erzählstil nicht täuschen lassen sollte. Seine Kommentare sind allesamt wissenschaftlich fundiert und äußerster sorgfältig recherchiert. Dieses Buch zeigt, dass es doch möglich ist: Ein wissenschaftlicher Kommentar, der sich mit Lust lesen lässt und dennoch auf dem neusten Forschungsstand ist.

Rezensiert von Sibylle Salewski

Hans Stilett: Von der Lust, auf dieser Erde zu leben: Wanderungen durch Montaignes Welten
Eichborn Verlag Berlin 2008
272 Seiten, 24.95 Euro