Prosa-Etüden und Kürzestgeschichten
Der Autor Wilhelm Genazino und seine Figuren sind Beobachter und Belauscher der Mitwelt. Auch in seinem neuen, zum 70. Geburtstag erschienenen Buch "Tarzan am Main", finden sich wieder liebevoll formulierte Flaneur-Wahrnehmungen und gedehnte Blicke im städtische Getriebe.
Dabei stellt sich der Beobachter quer zu den Abläufen des gewöhnlichen Lebens. Bei aller vorgeblichen Sanftmut hat seine Perspektive etwas Aufsässiges. Sie bringt das Tun der unauffällig beobachteten Mitmenschen um seinen Sinn.
Die Notizensammlungen, die aus seinen Stadt-Wanderungen resultieren, fädelt Genazino hier nicht am Handlungs-Leitfaden eines Romans auf, sondern bietet sie gewissermaßen als lose Blatt-Sammlung: Beobachtungsprotokolle, kleine Prosa-Etüden, Kürzestgeschichten, Detail-Reflexionen. Frankfurt ist der gemeinsame Nenner der knapp fünfzig Prosastücke: Es geht um Städtebau und Stadtentwicklung, um Frankfurt als dezidiert unschöne, nach dem Krieg rasch und lieblos wiederaufgebaute Stadt, in der man jedoch ein paar "persönliche Winkel finden" könne und deren Mischung von "Weltstadt und Provinznest" Genazino sympathisch findet. Im uneinheitlichem Frankfurter Stadtbild könne man "Diskontinuitäten" studieren: Schichten der Zeitgeschichte.
"Das Umhergehen in vollständig kommerzialisierten Umgebungen macht uns zu Minimalisten des Sehens, die sich schon mit kleinen Entdeckungen zufriedengeben müssen",
heißt es in einer Passage über die urbane Ödnis. In diesem Sinn macht Genazino seine Entdeckungen in Fußgänger- und Einkaufszonen, er beschreibt die Schrecken öffentlicher Toiletten und beklagt die notorische Hässlichkeit von Fußgängerunterführungen.
Er schildert urbane Existenzen im Zwielicht, das Unglück der Pendler und der Penner. Vor allem die "Abstürzler" liefern dem Autor beunruhigende Eindrücke, sowohl die immer größere Zahl komplett verelendeter Gestalten im öffentlichen Raum wie auch die vielen Männer, die den Alkoholismus in Heimarbeit erledigen und sich in Kiosken und Tankstellen bescheiden ihre Tages-Dosis abholen.
Auch die Tiere in der Stadt werden genau beobachtet. Der Autor studiert das Verhalten von Hunden in stark ausgeleuchteten Friseursalons, die nächtlichen Aktivitäten von Mäusen in der U-Bahn-Station oder die angestrengten Versuche von Tauben, Pommes Frites schnabelgerecht zu zerlegen, was zu ketchupverkleckertem Gefieder führt und das Gelächter umsitzender Kinder provoziert.
Eingefügt sind autobiografische Prosastücke über den Alltag des alternden, sich langsam auf sein Verschwinden vorbereitenden Schriftstellers, aber auch über die Kindheit im kriegszerstörten Mannheim, wo kriegszerstörte Männer zu den prägenden Eindrücken gehörten: Versehrte und Amputierte, die Fahrstühle in Kaufhäusern bedienten oder mit schäbigen Drehorgeln in Hinterhöfen aufspielten, worauf die Mütter in Zeitungspapier eingewickelte Groschen herunterwarfen.
Genazino schildert seine ersten Jahren in Frankfurt, die Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift "Pardon", umweht vom linken Zeitgeist der frühen 70er, er beschreibt seine Anfänge als Schriftsteller, der seinen Durchbruch mit der "Abschaffel"-Trilogie erlebte. Während damals literarische Darstellungen von Arbeitern an der Tagesordnung waren, konnte sich Genazino mit seiner Literatur der Angestelltenwelt eine eigene Nische erobern. Mit "Tarzan am Main" – der Titel verdankt sich der kindlichen Begeisterung für Tarzanhefte – hat der Autor seinem Werk ein bescheidenes, aber gelungenes Buch hinzugefügt.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands
Hanser Verlag, München 2013
139 Seiten, 16, 90 Euro
Mehr zum Thema bei dradio.de:
Fertigschicksal zum Mitnehmen -
Wilhelm Genazino: "Wenn wir Tiere wären", Carl Hanser Verlag, München 2011, 158 Seiten, (DKultur, Kritik)
Die Notizensammlungen, die aus seinen Stadt-Wanderungen resultieren, fädelt Genazino hier nicht am Handlungs-Leitfaden eines Romans auf, sondern bietet sie gewissermaßen als lose Blatt-Sammlung: Beobachtungsprotokolle, kleine Prosa-Etüden, Kürzestgeschichten, Detail-Reflexionen. Frankfurt ist der gemeinsame Nenner der knapp fünfzig Prosastücke: Es geht um Städtebau und Stadtentwicklung, um Frankfurt als dezidiert unschöne, nach dem Krieg rasch und lieblos wiederaufgebaute Stadt, in der man jedoch ein paar "persönliche Winkel finden" könne und deren Mischung von "Weltstadt und Provinznest" Genazino sympathisch findet. Im uneinheitlichem Frankfurter Stadtbild könne man "Diskontinuitäten" studieren: Schichten der Zeitgeschichte.
"Das Umhergehen in vollständig kommerzialisierten Umgebungen macht uns zu Minimalisten des Sehens, die sich schon mit kleinen Entdeckungen zufriedengeben müssen",
heißt es in einer Passage über die urbane Ödnis. In diesem Sinn macht Genazino seine Entdeckungen in Fußgänger- und Einkaufszonen, er beschreibt die Schrecken öffentlicher Toiletten und beklagt die notorische Hässlichkeit von Fußgängerunterführungen.
Er schildert urbane Existenzen im Zwielicht, das Unglück der Pendler und der Penner. Vor allem die "Abstürzler" liefern dem Autor beunruhigende Eindrücke, sowohl die immer größere Zahl komplett verelendeter Gestalten im öffentlichen Raum wie auch die vielen Männer, die den Alkoholismus in Heimarbeit erledigen und sich in Kiosken und Tankstellen bescheiden ihre Tages-Dosis abholen.
Auch die Tiere in der Stadt werden genau beobachtet. Der Autor studiert das Verhalten von Hunden in stark ausgeleuchteten Friseursalons, die nächtlichen Aktivitäten von Mäusen in der U-Bahn-Station oder die angestrengten Versuche von Tauben, Pommes Frites schnabelgerecht zu zerlegen, was zu ketchupverkleckertem Gefieder führt und das Gelächter umsitzender Kinder provoziert.
Eingefügt sind autobiografische Prosastücke über den Alltag des alternden, sich langsam auf sein Verschwinden vorbereitenden Schriftstellers, aber auch über die Kindheit im kriegszerstörten Mannheim, wo kriegszerstörte Männer zu den prägenden Eindrücken gehörten: Versehrte und Amputierte, die Fahrstühle in Kaufhäusern bedienten oder mit schäbigen Drehorgeln in Hinterhöfen aufspielten, worauf die Mütter in Zeitungspapier eingewickelte Groschen herunterwarfen.
Genazino schildert seine ersten Jahren in Frankfurt, die Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift "Pardon", umweht vom linken Zeitgeist der frühen 70er, er beschreibt seine Anfänge als Schriftsteller, der seinen Durchbruch mit der "Abschaffel"-Trilogie erlebte. Während damals literarische Darstellungen von Arbeitern an der Tagesordnung waren, konnte sich Genazino mit seiner Literatur der Angestelltenwelt eine eigene Nische erobern. Mit "Tarzan am Main" – der Titel verdankt sich der kindlichen Begeisterung für Tarzanhefte – hat der Autor seinem Werk ein bescheidenes, aber gelungenes Buch hinzugefügt.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands
Hanser Verlag, München 2013
139 Seiten, 16, 90 Euro
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Fertigschicksal zum Mitnehmen -
Wilhelm Genazino: "Wenn wir Tiere wären", Carl Hanser Verlag, München 2011, 158 Seiten, (DKultur, Kritik)