Propaganda an Russlands Schulen

Erziehung zu Patriotismus und Unmündigkeit

Erstklässler sitzen in der Klasse, in feiner Kleidung und schauen aufmerksam nach vorne.
Still sitzen, nach vorne schauen, auf den Lehrer hören: Erstklässler während ihrer ersten Unterrichtsstunde in der Stadt Kazan in Russland. © picture alliance / dpa / TASS / Yegor Aleyev
Ein Kommentar von Alexander Estis |
Ab dem nächsten Schuljahr wird patriotische Erziehung in Russland zum Unterricht gehören. Damit werden antiwestliche Ressentiments geschürt, fürchtet der in Russland aufgewachsene Autor Alexander Estis: aggressiver als während des Kalten Krieges.
Mit neun Jahren kam ich aus Russland nach Deutschland und wurde an einer deutschen Grundschule aufgenommen. Kurz darauf führte die Lehrerin mit uns Kindern in einem Schulmuseum eine Unterrichtsstunde „wie vor hundert Jahren“ durch.
Doch was meine deutschen Mitschüler als steinzeitliche Sitten bestaunten, war für mich vollkommen gewöhnlich. Ihnen erschien es geradezu kurios, dass sie die gesamte Stunde über stillsitzen mussten, den Rücken gerade, die Unterarme übereinandergefaltet, den Kopf nach vorn, während die Lehrerin im Befehlston Aufgaben erteilte, drakonische Strafen verhängte oder einen notorisch Renitenten vor der ganzen Klasse schikanierte. Mich wunderte eher, was meine Klassenkameraden an diesem Drill, dem ich gerade erst entkommen war, so amüsant fanden.
Dabei hatte ich Anfang der Neunzigerjahre eine für die Zerfallszeit der Sowjetunion recht fortschrittliche Schule besucht. Auch sie blieb jedoch einem traditionellen Charakteristikum des russischen Bildungswesens verhaftet, das weiterhin fortlebte: dem Dogmatismus.

Autoritätshörigkeit, auch an den Unis

Noch auf universitärer Ebene und selbst in geisteswissenschaftlichen Fächern wurden Lehrinhalte meist autoritativ vermittelt, in apodiktischem, dabei simplifizierendem Vortrag, oftmals auf Basis einzelner veralteter Lehrwerke. Aus der Verschulung, in die europäische Universitäten heute übrigens immer weiter hineindriften, sind die russischen nur im Einzelfall hinausgelangt. So kann man auch in einem Streitgespräch mit hochgebildeten Akademikern immer wieder das Argument hören: „Es ist so, ich weiß das genau, denn es wurde uns an der Universität so beigebracht.“
Zwischenzeitlich war das russische Bildungssystem etwas liberaler, wenn auch zugleich oft korrupter und anspruchsloser geworden. Man hatte sich dem Bologna-Verbund angeschlossen, aus dem die russischen Universitäten nun wieder entfernt worden sind, und die Schulen ließ die Politik bis vor einigen Jahren weitestgehend unbehelligt vor sich hindarben.

Nationalstolz und Vaterlandliebe

Seit Kriegsbeginn allerdings wird die dogmatische Ideologisierung russischer Schüler rasant verstärkt, wobei die schon im normalen Geschichtsunterricht angelegte Emphase auf Nationalstolz und Vaterlandsliebe weiter in den Vordergrund rückt.

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Inzwischen müssen sich Kinder nicht nur in Form des faschistoiden Kriegssymbols Z aufstellen oder ihre Klassenräume mit diesem Symbol dekorieren, sondern auch einer staatskonformen Indoktrination unterziehen lassen – zum Beispiel Vorträgen darüber, wie gut Russland mit den Sanktionen fertig wird und wie förderlich der sogenannte „Importersatz“ ist, also die Substitution ehemals importierter Güter durch inländische Produktion.

Antiwestlichen Ressentiments

Vom neuen Schuljahr an wird patriotische Erziehung in die Richtlinien der Schulbildung aufgenommen, allwöchentlich die russische Fahne gehisst und die Nationalhymne gesungen. Dem Rektorat jeder Schule wird ein Berater zur Seite gestellt, welcher die politische Linie des Unterrichts anleiten soll. Die Kinder müssen „die richtige Geschichte“ lernen, fordern patriotisch gesinnte Eltern – und meinen damit eine Heroisierung der russischen Vergangenheit und Gegenwart. Für geschichtsklitternde Narrative ist die russische Wissenschaft seit jeher anfällig, und die grundlegende Autoritätshörigkeit in der Lehre verbietet den darauf Eingeschworenen jegliche spätere Hinterfragung.
Der Übergang zu diesem neuen, offen propagandistischen Dogmatismus markiert einen Rückfall selbst noch hinter die Schule der späten Sowjetzeit. Mit ihren antiukrainischen und antiwestlichen Ressentiments erhält die neue Lehre einen aggressiven Aspekt, der nicht einmal während des Kalten Krieges in dieser Form zutage trat. Sollte diese Lehrpraxis ungehindert weiterwirken, möchte man sich kaum ausmalen, welche Absolventen sie produzieren wird.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Zuletzt erschien von ihm das „Handwörterbuch der russischen Seele“ bei der Parasitenpresse Köln.

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