Profil

Wie riecht der Erste Weltkrieg?

Schnuppert gerne an Städten und Ozeanen: Die Duftforscherin Sissel Tolaas
Schnuppert gerne an Städten und Ozeanen: Die Duftforscherin Sissel Tolaas © picture alliance / dpa / Bernd Thissen
Von Ursula Rütten · 15.07.2014
Die norwegische Chemikerin und Künstlerin Sissel Tolaas hat ihr feines Näschen zum Beruf gemacht: Sie erforscht die Gerüche von Städten, des Weltraums und der Ozeane. Im Militärhistorischen Museum in Dresden ist der Erste Weltkrieg als Geruchsinstallation zu sehen.
Sissel Tolaas: "Wir leben in einer Welt, wo wir hauptsächlich die Augen verwenden. Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich habe angefangen, Fragen zu stellen: was wäre, wenn die Nasen dafür verwendet werden, was die Augen normalerweise tun sollen? Werde ich die Welt anders verstehen? Werde ich mich anders benehmen? Werde ich toleranter, offener, glücklicher?"
Zwischen einem eintägigen Arbeitseinsatz in Grenoble und einem Kurztrip nach London findet Sissel Tolaas in ihrer Altbau-Wohnung in Berlin-Wilmersdorf Zeit für ein Gespräch. Hier lebt sie mit ihrer 16-jährigenTochter. Neben dem weiträumigen Büro liegt, offen einsehbar, ihr Labor. Einiges technisches Gerät, vor allem Regale, gefüllt mit über 2000 Duftproben aus aller Welt, konserviert in Flakons und Zylindern - das Rohmaterial für ihre eigenen, synthetisierten Geruchsschöpfungen.
Sissel Tolaas: "Was man will von mir ist eine andere Art und Weise, die Welt zu beobachten, zu verstehen, die Welt zu akzeptieren, mehr oder weniger auf derselben Grundlage, wie ich selber angefangen habe."
Unterscheidung zwischen Gestank und Duft abgelegt
Und das heißt: Gerüche unbefangen wahrnehmen und benennen zu lernen. Ohne jene vor allem in der westlichen Kultur durch kommerzielle Interessen gesteuerte Vorverurteilung eines Geruchs als gut oder schlecht, mitsamt der sprachlichen Polarisierung in Gestank oder Duft. Das hat Sissel Tolaas über sieben Jahre trainiert, und auch deshalb wird sie rund um den Globus zu Vorträgen und Geruchs-Workshops eingeladen. Sie lehrt als Professorin für "Unsichtbare Kommunikation und Rhetorik" an der Harvard Business School in Boston, nicht minder wichtig erscheint ihr die Arbeit mit Kindern:
Sissel Tolaas: "Je früher man anfängt, desto besser, weil, im Leben ist es so, und mit Geruch besonders, dass der erste Moment, die erste Erfahrung, die gemacht wird mit Geruch, das ist der verbleibende Quelle. Und wenn das positiv oder negativ wird, wird dein Verhältnis zu diesem Geruch entsprechend verbleiben bis man stirbt."
Sissel Tolaas ist Ende 40. Groß, vital, irgendwie eine Mischung aus sportlich und elegant. Ihr dichtes blondes Haar fällt offen bis auf Kinnhöhe. Ein Multitalent. Die promovierte Chemikerin hat ebenso Linguistik und Kunst studiert. Bezeichnend für die Weltbürgerin: an Universitäten in Oslo, Warschau, Moskau und Oxford. Tolaas spricht etliche Sprachen und engagiert sich dafür, mehr und sensibler über die Aufnahme von Gerüchen zu kommunizieren.
Sissel Tolaas: "Und das kann nur anfangen, wenn man selbst versteht: Was mache ich mit meinem Körper? Was schmiere ich darauf? Was will ich sagen, wenn du rumläufst wie eine Dove-Soap oder Chanel No. 5, fein. Aber, was heißt das? Was, wenn du erst mal versuchst herauszufinden: Wer bin ich denn, wenn das alles nicht überdeckt wird? Ist das unakzeptabel oder kann ich das so lassen? Einfach so kleine Experimente mit sich selber anzufangen. Dann kann man expandieren, im größeren Kontext, im Weltkontext, space, deep sea und so weiter."
Geruchsprofil von Berlin-Neukölln erstellt
Den Geruch des Weltraums und der Ozeane zu reproduzieren, daran forscht Sissel Tolaas bereits, in Zusammenarbeit mit der NASA. Kartographische Profile diverser Weltstädte anhand von Geruchsproben kann sie längst vorweisen: Tokyo, London, Warschau, Kapstadt ... Beispiele ihres kreativen Schaffens, das sie als Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Kunst versteht und womit sie in renommierten Museen und Ausstellungen von New York bis Shanghai vertreten ist:
Sissel Tolaas: "Ich habe den Geruch von Berlin gemacht, Anfang 2000. Vier Nachbarschaften: Neukölln, Mitte, Charlottenburg und Reinickendorf. Verschiedene Straßen, verschiedene Ambiente, verschiedene Orte wurden analysiert, Gerüche aufgenommen und reproduziert."
Im Militärhistorischen Museum von Dresden kann man sich im Rahmen der Dauerausstellung über den Ersten Weltkrieg von der Kunst der Nasenexpertin überzeugen: Man öffnet eine schwarze Tür, drückt auf einen Knopf, und schon strömt aus einer zylinderförmigen Patrone Gas: Die Nachahmung stinkt auch nach drei Jahren immer noch abstoßend und beängstigend realitätsnah: nach grausam unentrinnbarem hundertfachem Dahinvegetieren, Siechen und Sterben.
Sissel Tolaas: "Was sehr wichtig und hilfreich war: Ich habe Leute aus der Armee, auch ältere Generäle, die Krieg erlebt haben, die waren mehrmals im Laboratorium und haben mich beraten, wie Tod riecht, wie Pferdekadaver, Mustardgas, die ganze emulsion, auch chemische. Das Interessante ist, ich habe das hier zuhause gemacht in meinem Labor, und meine Tochter, Freunde, Nachbarn, die haben das alles mitgerochen: 'Oh, das ist Weltkrieg I', also: mission accomplished."
Mehr zum Thema