Potsdamer Straße in Berlin

Am Ziel ist man hier nie

Ein Mann in Portiersuniform winkt am Freitag (09.01.2009) vor dem "Wintergarten" in Berlin vorbeifahrenden Autofahrern mit seiner Mütze zu. Die Mitarbeiter des Varietes in der Potsdamer Straße demonstrierten gegen die Schließung ihrer Einrichtung zum 31. Januar 2009.
Das Varieté "Wintergarten" liegt in der Potsdamer Straße - und erinnert an die Glanzzeiten der 20er-Jahre. © Soeren Stache / dpa/lbn
Von Christine Sievers und Nicolaus Schröder · 02.12.2016
Die Potsdamer Straße verändert sich seit ihrem Bestehen: Vom Zentrum des 20er-Jahre-Nachtlebens zur Sackgasse am Todesstreifen. Mit Hausbesetzerszene oder als Galerie-Hotspot. Heute ist die Potsdamer Straße ein lebendiges Versuchslabor zur Neuerfindung der Metropole.
Berlin, Potsdamer Straße - bei dieser Adresse braucht man nicht mehr viel zu erklären. Auch Auswärtige haben hier sofort ein Bild zur Hand: Zwanzigerjahre-Glamour, besetzte Häuser, Rotlichtbezirk, überlastete Verkehrsachse, Problemkiez. Das öffentliche Bild dieser Straße ist, wenn man es freundlich ausdrücken will, widersprüchlich.
Engür Sastimdur: "Wenn man einmal in Teheran oder in den türkischen Großstädten war, dann weiß man wie diese Großstädte ticken. Die Straßen sind immer sehr belebt, immer sehr mit Autos befahren. Vielleicht liegt es daran, dass uns auch diese Nähe hier in der Potsdamer Straße entgegenkommt, weil das auch von seiner Struktur her, von seiner Vielschichtigkeit her und von seiner Belebtheit doch so an Städte in der Türkei beziehungsweise so in Persien ähnelt."

"Es ist einfach spannend hier"

Die Potsdamer Straße verändert sich beständig. Jetzt werden auf alte Häuser neue Stockwerke gesetzt, Lofts entstehen, Hinterhöfe werden umgebaut. Galerien, teure Modelabels, Budgethotels, Gastronomie für unterschiedlichste Ernährungsgewohnheiten. Das Alte geht das Neue kommt? So einfach ist das hier nicht. Geschäfte mit Namen wie die Lützowbiene, Puschels Pub, Ave Maria oder die Fleischerei Staroske waren schon hier als die Potsdamer Straße kaum mehr als die verwahrloste Zufahrt zur Neuen Nationalgalerie war, dahinter kam der Todesstreifen.
Jörg Staroske: "Der Betrieb ruht noch auf Zeiten des Kaisers und des Königs - und von daher sind wir auch damals Kaiserlicher und Königlicher Hoflieferant gewesen. Das heißt, also 1865 ungefähr, als der Lützowkiez entstand, wurde damals auch dieser Betrieb erbaut und so hat sich das über Jahrzehnte entwickelt."
Ralf-Otto Hänsel: "Es ist einfach spannend hier, man entdeckt etwas, was man in anderen Städten nicht entdecken kann. Nämlich genau eben in dieser Heterogenität. In der schillernden Vielfalt. In den schillernden Unterschiedlichkeiten. Das ist schon was ganz Spannendes, gar keine Frage. Aber wir sind ja kein Touristenbespaßungsprogramm."
Die Potsdamer Straße, das ist eine Magistrale, eine Verkehrsachse, die als Reichsstraße Nummer eins die Hauptstadt mit dem Rest der Welt verbinden sollte. Als Bundesstraße eins hat sie diese Funktion noch immer. Aber genauso ist sie eine Straße, in der gearbeitet und auch gewohnt wird. Um die Veränderung des Lebens in der Metropole Berlin zu beschreiben, eignete sie sich schon immer.

Große Betriebe sind fortgezogen

Jörg Staroske ist hier aufgewachsen. Dem aktuellen Wandlungsprozess, auf den viele erst aufmerksam wurden, als der "Berliner Tagesspiegel" sein altes Verlagsgebäude zu Geld machte und einfach fortzog, gingen viele kleine voraus.
Jörg Staroske: "Ja, da braucht man nicht nur an den 'Tagesspiegel' denken, wenn wir da weiter zurückgehen. Die BEWAG hatte damals die Zentrale unweit von hier gehabt. Da sind viele Mitarbeiter auch zu uns gekommen. Das waren andere Verlage wie TIP-Verlag, Zweitehand, es waren große Banken, die damals noch hier waren, die Raiffeisen-Köpenicker-Bank, es war die Gothaer Versicherung, es gibt eine lange, lange Liste mit großen, großen Firmen, die alle hier weggegangen sind."
Und zu Staroske gekommen sind sie in der kurzen Mittagspause alle. "Mittagstisch für Liebhaber der deutschen Küche" – das ist Programm. Geboten wird alles vom Rahmgeschnetzelten mit Spätzle bis zum Klassiker, der "Bulette mit Kartoffelpüree". Wem es mittags im Laden mit der heulenden Kühlung zu laut ist, der setzt sich an die Tische vor den Schaufenstern auf die ebenso laute Potsdamer Straße. Den Fortzug der großen Betriebe hat Staroske gut verkraftet. Zur Mittagszeit ist das Geschäft genauso gut besucht, wie zu Zeiten als Drucker, Bankangestellte und Zeitungsleute hierher kamen.
Gegenüber der Fleischerei befindet sich das P103. Deren Macher, Engür Sastimdur, Mohsen Araghi und Mehran Navidi, trafen sich als Studenten aus dem Iran und der Türkei in Berlin. Das Büro ihres Taxi-Betriebs lag um die Ecke in der Bülowstraße. Ende 2013 eröffneten sie das P103, ein Caféhaus mit Galerie und Veranstaltungen, das auch vegetarische Gerichte anbietet.
Engür Sastimdur: "Wir haben das schon bemerkt, als wir eben unser Taxibüro hatten. Da haben wir dort schon selber Ausstellungen organisiert von befreundeten Künstlern, mehrmals. Und da hatte man schon gemerkt, das war sieben Jahre vorher, das langsam hier so ein Wandel Richtung Künstlerszene, Galerieszene sich entwickelt."

"Wie immer ist es ja die Kunst, die so tolle Orte entdeckt"

Der alte Stuck in dem weiten, hohen Raum ist freigelegt, die Farbe heruntergewaschen. Die großen Wandflächen werden für wechselnde Ausstellungen genutzt. Durch die große Glasfront zur Straße kann man einen Flügel erkennen. Es gibt Konzerte, der Eintritt ist immer frei. Alle sollen nicht nur kommen, sondern sie sind tatsächlich alle da.
Engür Sastimdur: "Das ist sehr gemischt, aber schon diese Grundschwingung, das sind die Kunstschaffenden - und die kommen immer noch sehr, sehr oft und bringen dann eine gewisse Atmosphäre hier rein, was dann von den anderen natürlich auch dann getragen wird."
Am Abend singt Miguel Levin Chansons aus Argentinien und Couplets aus der Weimarer Republik. Fans von Levin sind im Publikum, die üblichen Medienleute, Künstler und Nachbarn, Spaziergänger, die von der Musik ins Lokal gelockt wurden und sich gleich auch die Bilder an den Wänden anschauen.
Isabel Mattmüller: "Wie immer ist es ja die Kunst, die so tolle Orte entdeckt, und deswegen habe ich das im Grunde auch entdeckt, weil ich mich für Kunst interessiere und die Galerieszene verfolge, und deswegen habe ich diesen Ort entdeckt."
Isabel Mattmüller ist Architektin. Sie lebt im Kiez, kennt die Galerien, Geschäfte und Kneipen - und das seit ihrem Studium in den 90er-Jahren.

Vieles von der alten Struktur blieb erhalten

Isabel Mattmüller: "Im Grunde finde ich, hat sich die Straße bis vor ein paar Jahren, seitdem gar nicht sehr viel geändert. Und das wundert mich ja so, weil es ja eine absolute Innenstadtlage ist, superzentral - und ich hatte immer damit gerechnet, dass die Straße viel, viel früher beginnt, sich zu verändern. Und das tut sie ja jetzt im Grunde… So seit drei Jahren kommt jetzt so eine andere Klientel da rein."
Die andere Klientel, die jetzt in die Potsdamer Straße kommt, sucht Läden wie das P103, die Ateliers, Studios und Restaurants genauso wie sie bei Staroske eine Bulette isst, oder bei der Lützowbiene Kopierpapier mitnimmt. Vieles von der alten Struktur blieb erhalten. Dafür gibt es viele Gründe: unklare Besitzverhältnisse, überzogene Renditeerwartungen von Investoren, Altbesitzer, die nicht verkaufen wollen. Als Architektin hat Isabel Mattmüller einen Leerstand, den heruntergewirtschafteten Innenhof in der Potsdamer Str. 91 umgebaut. Solche Projekte entstehen weniger strategisch geplant, als durch Zufall, Aufmerksamkeit und Hartnäckigkeit einiger Weniger.
Isabel Mattmüller: "Das ging so los, dass ich an der Potsdamer Straße immer wieder entlanggelaufen bin, weil ich eben dort in der Nähe wohne. Und durch die Kunstausstellung, das freie Museum war ja in unserem Gebäude, bin ich immer wieder mal in diesen Hof gegangen und hab erlebt, was in den Häusern passiert. Und auf einmal waren sie leer. Und auf einmal lagen Badewannen und WC-Schüsseln und Waschbecken in dem Innenhof - und ich dachte mir, gut, hier passiert irgendwas. Und da ich das Haus aber so schön fand und als Denkmal so erhaltenswert, habe ich mich darum gekümmert den Eigentümer herauszufinden, weil es eben sehr lange leerstand und hab ihn herausgefunden und hab mich dann dahinter geklemmt, so lange ein Jahr lang ungefähr, bis der Eigentümer aufgegeben hat und gesagt hat, gut, Sie wollen das unbedingt erwerbe, das Haus, wir verkaufen ihnen das. Und dann ging das ganz schnell und jetzt sind wir da."
Dass die Gebäude unter Denkmalschutz stehen und bauliche Veränderungen strengen Auflagen unterliegen, schreckt Investoren normalerweise ab. Hier wurde gerade das zum Ausgangspunkt einer Planung, die den engen Wilhelminischen Hinterhof modern interpretiert. Farben und Stuck wurden freigelegt, den Torbogen beleuchten jetzt riesige Lichtreifen und Metallbänder eines Beleuchtungssystems, an denen Lichtkugeln hängen, geben dem schmalen Schlauch des Hinterhofs eine fast übermütige Weite. Wer durch den Torbogen tritt, fühlt sich willkommen und freut sich dem Großstadtlärm entkommen zu sein.
Isabel Mattmüller: "Ja da steckt wirklich ganz viel Arbeit drin, wir haben versucht, das hochwertig zu sanieren, aber nicht kaputt zu sanieren. Das ist unheimlich schwer, den Handwerkern das klarzumachen, weil die gern alles neu machen und alles weiß und alles gerade und akkurat."
Aus dem heruntergewohnten, dunklen Hof mit billigen Wohnungen wurde ein Ort für Büros, Ateliers und Gastronomie. Bei den Räumen des P103 war es ähnlich. Das Galerie-Restaurant ersetzte Friseurkette und Ein-Euro-Shop. Klassicher Verdrängungsprozess, könnte man sagen. Günstige Wohnungen und Billigshops verschwinden, angesagte Agenturen, Start-Ups und Galerien ziehen ein. Aber geht jetzt der Kiez kaputt? Kommt nun das dicke Geld? Der Stadtethnologe Wolfgang Kaschuba:
"Die Gentrifizierungsthese oder -theorie ist ein bisschen grobschlächtig, weil die ganz einfach bedeutet, dass wir alle Phänomene der Veränderung zusammeninterpretieren - und das sind oft gegenläufige Phänomene. Aber Veränderung heißt eben in den Städten und gerade eben in Städten wie Berlin, die eben auch sehr viele vernachlässigte Quartiere haben, das zunächst einmal Modernisierungsprozesse, also Veränderung der Wohninfrastruktur und der Bedürfnisse, Zusammenspiel mit Eigentumsveränderungen, also da kann es im Extremfall Spekulation geben."

Restaurants, Start-ups, Ateliers - die Mischung macht's

In der Potsdamer Straße sind die Grenzmarkierungen so unübersehbar, wie die Brachen, die in den Lücken und Winkeln neu entstehen. Für seine Galerie 401Contemporary suchte Ralf-Otto Hänsel 2010 nach neuen Räumen. Die Galerie in Mitte war zu klein geworden, die Miete zu hoch, das Umfeld passte nicht mehr. Durch Zufall geriet Hänsel damals in den Hinterhof des leerstehenden "Tagesspiegel"-Gebäudes. Eine prächtige Stadtvilla stand da inmitten des zubetonierten Betriebshofes direkt gegenüber der Druckmaschinenhalle. Die Idee, hier eine Galerie hinzubringen, gefiel dem Eigentümer des Areals auf Anhieb. Als erster Mieter konnte Hänsel sich die Räume für seine Galerie aussuchen. Er wählte die Beletage.
Ralf-Otto Hänsel: "Die Eröffnung war im Januar 2011, habe ich die erste Ausstellung gemacht, und es war stockduster hier. Ich habe dann am Tag vor der Eröffnung einen Baustrahler gekauft, habe den im Hof aufgestellt, weil es so duster war, dass ich sagte, es traut sich gar keiner auf den Hof. Denn die paar Neonlampen, die durch die Fensterscheiben scheinen, können bei Weitem das nicht beleuchten und draußen ging der Straßenstrich lang, macht er heute auch noch, ja, gar kein Problem, bloß damals war es nur der Straßenstrich. Also ich hatte mir wirklich Gedanken gemacht, wer kommt denn überhaupt? Und wenn jemand kommt, findet er es? Und wenn er es findet, traut er sich auf den Hof? Die Eröffnung war sehr voll, es war toll, aber schon interessant."
Heute ist auch die gigantische Druckmaschinenhalle vermietet. An einen Concept Store für Mode und Design. Neben Hänsels 401Contemporary residieren in der Stadtvilla mittelweile noch andere Kunsthändler. In das alte Verlagsgebäude zogen eine PR-Agentur, eine Modelagentur, eine TV-Produktion oder das Start-up einer Veranstaltungsapp und in den Ladenräumen eröffnete Fiona Bennett zusammen mit ihrem Partner Hans Böhme 2012 ihren Hut-Salon - einen Showroom in strahlendem Weiß für prächtige Hüte mit angeschlossenem Atelier. Von der Straße aus kann man durch die riesigen Schaufenster den Modistinnen bei der Arbeit zusehen. Eine spektakuläre Inszenierung, die in der Brache, die damals nach dem Wegzug des "Tagesspiegels" entstanden war, wie ein Fanal wirkte. Moderne Kunst, Start-ups, Dienstleistung und Gastronomie, die Betriebsstruktur in der Potsdamer Straße ist kleinteiliger geworden, die Mischung wilder. Ruhiger Büro- oder Redaktionsalltag war gestern.
Fiona Bennett: "Also es fing erst einmal damit an, dass sich das Haus gefüllt hat, dass dieser Kosmos so eins wurde. Ich fand die Mischung sofort interessant, ich habe gedacht, der Hausbesitzer macht einen guten Job, er setzt wirklich geschickt Zugpferde ins Haus, wo andere wieder gucken, was machen die? Wo gehen die hin? Wo positionieren sie sich? Es sind alles doch eher etablierte Firmen, aber trotzdem mit Pioniergeist."
Isabel Mattmüller: "Dass man Makler einschaltet in die Vermietung, das haben wir nicht gemacht, sondern wir haben uns individuell die Mieter rausgesucht, die haben sich bei uns beworben, wir hatten eine Webseite dafür und wir haben die Mieterklientel in dem Hof zusammengestellt nach unserem persönlichen Empfinden und jetzt ist bis auf zwei Mieteinheiten alles vermietet und die Mieter passen sehr gut zusammen. Das ist alles eine kreative Mieterstruktur. Es gibt da zwei Restaurants und der Rest sind Büromieter, Architekten, Werbeleute, Galerien, Modeszene, Kunst - und die gehen auch so mit den Räumen um, mit so viel Verständnis, dass wir da überhaupt kein Problem haben."
Die Mischung macht's. Galerien, Architekturbüros und Mode stehen nicht zwangsläufig für hohe Mieteinnahmen, doch solche Mieter stabilisieren den Wert einer Immobilie, ihres Umfelds. Aus Investorensicht ist das langfristig eine viel bessere Perspektive.
Umnutzung, Aufwertung, Verdrängung - so lautet der klassische Dreischritt der Gentrifizierung. Schlusspunkt dieser Entwicklung ist eine Gegend für eine homogene Zielgruppe mit hoher Kaufkraft. Anzeichen für diese Entwicklung gibt es in der Potsdamer Straße eine ganze Reihe. Es gibt aber immer noch eine deutlich sichtbare Gegenströmung
Puschel's Pub ist eine dieser Bierhöhlen, die vollkommen aus der Zeit gefallen sind. Im dichten Zigarettenqualm fallen die Fan-Schals der Bundesliga-Mannschaften an der Decke kaum noch auf. Vergessen dudelt ein Radio vor sich hin, die Männer an der Theke trinken ihr Feierabendbier, die offenstehende Tür zur Straße versorgt die Runde mit der nötigen Frischluft. Auch das ist die Potsdamer Straße.

Die Potsdamer Straße ist ein eigener Kosmos

Das Neue, Angesagte, die Galerien, Studios, szenigen Bistros, Agenturen und teuren Modegeschäfte haben das Alte nicht verdrängt. Manches hat sich komplett verändert, anderes wie der Wintergarten, mit rotem Teppich, Plüsch und livriertem Personal, erinnern an den verflogenen Glamour der Zwanzigerjahre, an Bubikopf und Tanzsalon. Genau so lieben es nicht nur Touristen, auch ein Berliner Stammpublikum kommt. Beim Sonntagnachmittagsprogramm sitzen Familien mit Opas, Tanten und an ihren Handys daddelnden Kindern im Zuschauerraum. Café und Kuchen wird serviert, auf der Bühne begleitet eine Band halsbrecherische Artistik. Eine Szene, wie aus einer 60er-Jahre-Wochenschau. Keine 500 Meter entfernt, Ecke Kurfürstenstraße, Szenen, wie sie sich in den letzten 50 Jahren auch kaum verändert haben: langsam fahrende Autos, junge Frauen in knappen Outfits, die auf Freier warten.
Ralf-Otto Hänsel: "Wer geht denn da schon gerne zur Kurfürstenstraße, ja? Da wo dieser Sexshop, der LSD gegenüber ist. Und daneben ist ja nicht nur Prostitution, sondern da ist ja teilweise billigster Mädchenhandel. Ist ja erschreckend, ja? Was da für arme Menschen stehen. Stehen müssen, ja? Ist ja schrecklich. Und insofern ist, und das bleibt so. Es ist ja auch politisch gewollt, das es eine Gegend gibt, die so ist. Und das ist ja nun nicht animierend für viele Leute."
Die Potsdamer Straße ist nicht der Ku'damm und nicht die Friedrichstraße. Flanieren geht hier nur zwei, drei Hausnummern weit, dann kommt mit Sicherheit eine Spielhalle, ein Bandagengeschäft oder gleich der Bestatter. Und doch funktioniert sie als Ganzes. Die Potsdamer Straße ist ein eigener Kosmos. Wer hier arbeitet, kennt auch seine Nachbarschaft.
Fiona Bennett: "Na ja, so was wie Die Lützowbiene - also, dass das so funktioniert, so ein Geschäft, wo alles einfach nur so reingestellt ist, da wird nicht überlegt. Also, Marketing ist wahrscheinlich ein Fremdwort. Es läuft aber trotzdem, weil es den Bedarf der Arbeitenden hier auch abdeckt, also was sie anbieten, ist gut, aber es wird nicht dafür geworben, und es ist auch nicht unbedingt schön, da reinzugehen, aber, dann sind das wieder so Ur-Berliner, die sind wahnsinnig freundlich. Der eine geht auch immer auf so Wikinger Feste, erzählt mir gerne davon, also so, es ist so eine komplett andere Welt."
Wolfgang Kaschuba: "Wir gehen ja immer davon aus, wenn große Städte leben, wenn sie sozial gesund sind, dann begegnen sich Leute noch, dann ist sie nicht aufgeteilt in getrennte Milieus, in Sozialgettos, ob die jetzt exklusiv sind oder ob die prekär sind, sondern dann ist die Stadt eine Kontaktzone. Und die Potsdamer Straße ist, glaube ich, so eine Kontaktzone. Das meint nicht Ausgehmeile, das sind andere Formen der Kontaktzone, sondern dass unterschiedliche Lebenswelten, die hier leben, wohnen, arbeiten oder jedenfalls viel Zeit zubringen, aneinandergrenzen, ineinander verschränkt sind."
Engür Sastimdur: "Also, wir haben einen sehr großen Anteil an Leuten, die hier wohnen, die hier herkommen, der liegt so bei 30 bis 50 Prozent. Der Rest ist wirklich, was von außen kommt, beziehungsweise auch so zehn, 15 Prozent so sind zufällig Laufpublikum, die so reinkommen. Aber der Stammpublikum-Anteil ist recht hoch hier. Und viele wohnen tatsächlich hier in der Gegend, in dem Kiez."
Wolfgang Kaschuba: "Also, die klassische amerikanische Metropolenliteratur, französische oder auch deutsche, Döblin, das sind ja eher Überlebensstrategien - und die bedeuteten eben natürlich, dass Metropole nichts Stabiles war, weil Metropole nicht zurückkonnte und nicht stehenbleiben konnte, sonst starb sie, sondern nur nach vorne konnte. Und nach vorne hieß Opfer, also sozusagen Metropole ist nicht nur attraktiv, sondern auch eine Blutspur, sozial gesprochen, weil es natürlich immer Verlierer gab. Und deswegen ist das ja so bemerkenswert, was sich jetzt verändert hat, und gerade Berlin steht ja für diese dramatische Veränderung. Also für mich ist das eine Kulturrevolution der Städte."
Die Potsdamer Straße – das sind Menschen verschiedenster Herkunft und unterschiedlichster Religionen, Erwartungen, materiellen Möglichkeiten und Perspektiven. Homogenität gibt es nicht, dafür Tradition und Neuanfang. Das Nebeneinander vollkommen disparater Konzepte und die gegenseitige Toleranz sind der Kitt dieses Modells, das jetzt wieder einmal eine Belastungsprobe überstehen muss: An den Rändern, zum neuen, schnieken, mit Preisen ausgezeichneten Gleisdreieckpark hin und entlang des Straßenstrichs in der Kurfürstenstraße entstehen neue kostspielige Wohnquartiere. Ist das der Anfang vom Ende des Kosmos Potsdamer Straße?
Isabel Mattmüller: "Ich bin auch sehr gespannt, ob die Projekte funktionieren werden. Ich sehe das so ein bisschen skeptisch, gerade in der Kurfürstenstraße dieses Wohnbauprojekt, was da jetzt mit teuren Wohnungen, sage ich mal, mit auch sehr angepassten Entwürfen, die ich bis jetzt gesehen hab, die Stuckaltbau nachvollziehen wollen, und die Klientel, die sich im Moment da herumtreibt, die gute Klientel sage ich mal, die abends ja wieder weg ist, die werden sich für so einen Wohnungsbau eher nicht interessieren. Und deswegen bin ich sehr gespannt, wer da hinziehen wird, und im Moment habe ich auch das Gefühl, dass diejenigen, die in der Flottwellstraße leben den Sprung zur Potsdamer noch gar nicht geschafft haben. Ich glaube, die orientieren sich eher zum Potsdamer Platz möglicherweise und sehen nicht, was in der Potsdamer Straße gerade passiert."

Straßenstrich schreckt Investoren nicht ab

Die angesprochene Bebauung in der Flottwellstraße besteht aus 122 Miet- und 148 Eigentumswohnungen, die direkt am neuen Gleisdreieckpark errichtet wurden. Obwohl die Potsdamer Straße nur eine Querstraße entfernt ist, scheint eine unsichtbare Grenze zwischen den beiden Straßen zu liegen. Nach Angaben der Immobilienfirma, die das Projekt entwickelte, kommen 40 Prozent der Wohnungskäufer nicht aus Berlin, 15 Prozent kommen aus dem Ausland, 34 Prozent nutzen die Appartements nicht selbst. Viele Wohnungen stehen die meiste Zeit leer.
In der nahen Kurfürstenstraße sind die Neubauprojekte kleiner, doch das Konzept hochpreisigen Wohnbaus in attraktiver Innenstadtlage ist dasselbe. Dass zu dieser Lage im Augenblick ein Straßenstrich direkt vor den Hauseingängen gehört, scheint die Investoren nicht abzuschrecken.
Ist die Potsdamer Straße, wie wir sie bisher kannten, am Ende? Ist dies ihr Finale, der Epilog? Oder bestaunen wir den Prolog zu einer ganz anderen Entwicklung?
Wolfgang Kaschuba: "Im Grunde genommen haben wir jetzt eine Neuerfindung der Metropole als kulturelle Kapitale, die aber nicht primär von Oper und Museum und Theater lebt, sondern von einer breiten Massen- und Freizeitkultur, die aber eben nicht mehr die proletarische Massen- und Freizeitkultur Berlins der 20er-Jahre ist, sondern einer mittelschichtigen Kultur mit hohen Konsumanteilen, mit hohen Erlebnisanteilen und vielem anderen mehr. Und das schlägt sich eben darin nieder, führt eben aber auch dazu, dass wir die Frage Gentrifizierung im Sinne von Verdrängung oder Stabilisierung im Sinne von: Wir setzen unsere Lebensstilinteressen durch. - Das ist unentschieden in einer Stadt wie Berlin. Ich glaube in einer Stadt wie Paris oder einer Stadt wie London, ist es entschieden."
In der Potsdamer Straße kann man für mehrere tausend Euro aktuelle Kunst oder eine goldgerahmte Heidelandschaft für zehn Euro kaufen, eine Cap bei Woolworth oder eine Maßanfertigung von Fiona Bennett, ein Spanferkel in der Fleischerei bestellen, eine Asia-Box essen oder beim türkischen Gemüsehändler eine Kiste Tomaten mitnehmen. Vielleicht ist die Potsdamer Straße wirklich das lebendige Versuchslabor einer Neuerfindung der Metropole. Ein Labor, das sich seiner Geschichten bewusst ist, ohne sich darin zu verlieren, und immer offenbleibt für Neuanfänge. Am Ziel ist man hier nie.
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