Gentrifizierung in Berlin

"Es geht vor allen Dingen um Verdrängung"

Demonstration gegen die Räumung eines besetzten Hauses in der Rigaer Straße in Berlin Friedrichshain am 9. Juli 2016.
Demonstration gegen die Räumung eines besetzten Hauses in der Rigaer Straße in Berlin Friedrichshain am 9. Juli 2016. © dpa / Maurizio Gambarini
Andrej Holm im Gespräch mit Nana Brink · 13.07.2016
Mieter, die weiter preiswert wohnen möchten versus Eigentümer mit Ertragserwartungen: In Berlin mit der seiner Hausbesetzerszene sei das Eskalationspotenzial bei solchen Konflikten besonders hoch, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm. Helfen könne nur noch ein Runder Tisch mit allen Beteiligten.
Nach Meinung des Stadtsoziologen Andrej Holm lässt sich die Eskalation der Gewalt zwischen Hausbesetzern und Polizei in Berlin-Friedrichshain nur durch einen runden Tisch stoppen; An diesem Tisch müssten alle sitzen: Wohnungseigentümer, Mieter, Hausbesetzer und die Politik. Dies wird auch mit Nachdruck von den Anwohnern gefordert, die den Frieden in ihrem Kiez zurück haben wollen.
"Das scheint die Stimme der Vernunft zu sein. Auch weil die Situation in der Rigaer Straße ja von politischer Seite im laufenden Wahlkampf eher missbraucht wird für Stimmungsmache. Wichtig wäre meines Erachtens für so einen runden Tisch, dass man auch die Eigentümer mit an den Tisch kriegt, denn die sind eigentlich der wichtigste Gesprächspartner. Sie entscheiden darüber: Wird geräumt – oder wird vielleicht diese juristisch auch umstrittene Räumung der Wohnungen zurückgenommen?"

Alle Positionen sind nachvollziehbar

Die Positionen aller Seiten seien verständlich, alle seien an Besitzstandswahrung interessiert: Die Alt-Mieter an bezahlbaren Mieten, die Eigentümer am Ertrag, die Hausbesetzer an ihrer alternativen Lebensform. Holm sagte, die Hartnäckigkeit, mit der die Hausbesetzer ihr Leben in Friedrichshain verteidigten, sei nachvollziehbar. Diese hätten kollektive Lebensformen entwickelt, "die sie auf die Art und Weise ja nicht einfach irgendwo anders hintragen können. Man kann diese Besetzerszene aus dem Bezirk Friedrichshain nicht ohne weiteres in einen anderen Stadtbezirk übertragen."
Holm, der wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berliner Humboldt-Universität ist, sagte weiter, angesichts der weiterhin zum Teil exorbitant steigender Mieten werde deutlich, dass die vor einem Jahr eingeführte Mietpreisbremse ihre Ziel verfehlt habe. Sie garantiere Mietpreise knapp oberhalb des Durchschnitts. Dies nütze jedoch der großen Zahl von Bürgern nichts, die weniger als das Durchschnittseinkommen zur Verfügung hätten.

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Der Sommer in Berlin ist ja gerade ziemlich heiß. Das liegt nicht nur an den Temperaturen, das liegt an der aufgeheizten Situation, an Polizeieinsätzen und einer Art Häuserkampf. In Berlin eskaliert das rund um ein Haus im Stadtteil Friedrichshain, die Rigaer Straße, die es ja zu bundesweiter Berühmtheit gebracht hat, und ganz abgesehen von linken Gewalttätern, die das Thema ja brennen sehen wollen, drücken die Anwohner Sorgen aus, die vielerorts zu beobachten sind.
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Und ich möchte jetzt sprechen mit Andrej Holm von der Humboldt-Universität zu Berlin, Sozialwissenschaftler am Lehrstuhl für Stadt- und Regionalsoziologie. Und er hat ein Buch geschrieben: "Wir bleiben alle. Gentrifizierung. Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung". Schönen guten Morgen, Herr Holm!
Andrej Holm: Guten Morgen!
Brink: Bleiben wir noch ganz kurz bei der Rigaer Straße in Berlin. Ist das symptomatisch für Deutschland oder eher ein Einzelfall?
Holm: Diese Konzentration von besetzten Häusern und Konflikten und auch provinzieller Stadtpolitik, das ist schon eine einzigmalige Berliner Mischung, die sich da jetzt auftut. Und der dahinterliegende Konflikt, den gibt es natürlich auch in anderen Städten, eigentlich überall, wo die Mieten steigen, wo die Interessen von Bewohnern, die gern zu preiswerten Mieten wohnen bleiben wollen, auf Interessen von Eigentümern treffen, die sozusagen sehr hohe Ertragsaussichten haben. Da kommt es immer wieder zu Konflikten. Wenn der dann auf so eine Szene trifft, wie es jetzt hier in den ehemals besetzten Häusern in Berlin ist, dann ist da ein großes Eskalationspotenzial vorhanden.
Brink: Dann kommen wir um einen Begriff nicht drum rum. Der taucht natürlich auch auf in dem Buch: Gentrifizierung. Das ist ja sozusagen das Schlüsselwort, ist sozusagen Strukturveränderung einer Stadt. Aber es geht ja nicht nur um sozusagen den Wandel in der Bevölkerung?
Holm: Es geht vor allen Dingen um Verdrängung. Es ist ein englischsprachiger Begriff, der zuerst in London, später in den USA, vor allen Dingen in New York beobachtet wurde, und in den letzten Jahrzehnten eigentlich in fast allen Großstädten diskutiert wird. Und Verdrängung heißt Inwertsetzung, Aufwertung von Stadtteilen, die nur gelingt, wenn auch die Bevölkerung verdrängt wird. Und das führt zu den massiven sozialen Protesten eben auch, die rund um diese Gentrifizierung dann immer wieder auftauchen. Dass es da Konflikte gibt, das ist absolut keine Besonderheit von Berlin, sondern ist eigentlich der Standard, den wir in vielen Städten beobachten.

Hausbesetzer kann man nicht in einen anderen Bezirk schicken

Brink: Aber ich möchte noch mal auf die Bewohner zurückkommen, die ja auch ihre Sorge ausgedrückt haben, die man auch verstehen kann, es geht ja auf der einen Seite um handfeste Interessen auf beiden Seiten. Die einen wollen billige Mieten, möglichst große Wohnungen haben, die anderen wollen vielleicht etwas anderes entwickeln. Wie viel Besitzstandswahrung sehen Sie denn da auch?
Holm: Vor allen Dingen ist das Interesse der Vermögensverwertung ganz deutlich, wenn wir auf die Eigentümerseite gucken. Und auf der anderen Seite, dass Bewohnerinnen jetzt ihre ja seit vielen Jahrzehnten in der Regel etablierten Wohnverhältnisse gern erhalten wollen, das ist, glaube ich, ziemlich nachvollziehbar, kennen wir vielleicht auch aus der eigenen Wohnsituation. Und hier hat es ja noch mal die Besonderheit, dass dann die Bewohner von diesen ehemals besetzten Häusern ja auch kollektive Lebensformen entwickelt haben, die sie auf die Art und Weise ja nicht einfach irgendwo anders hintragen können. Man kann diese Besetzerszene aus Friedrichshain jetzt nicht einfach in einen anderen Stadtbezirk übertragen, das ist in einer einmaligen Gelegenheit Anfang der 90er-Jahre, Ende der 80er-Jahre entstanden. Und da erklärt sich vielleicht auch so ein bisschen die Hartnäckigkeit, mit der jetzt da auch sozusagen die eigene Lebenswelt verteidigt wird.
Brink: Was muss man tun, um dagegen anzugehen aus Ihrer Sicht?
Holm: Das ist relativ häufig in der Stadt. Letztendlich haben die Anwohnerinnen, die gestern diesen runden Tisch gefordert haben und gesagt haben, hier, Leute, setzt euch zusammen mit den verschiedenen Seiten, das scheint die Stimme der Vernunft zu sein, weil es ja auch von der politischen Seite jetzt im laufenden Wahlkampf eher missbraucht wird auch für Stimmungsmache, die Situation in der Rigaer Straße. Wichtig wäre meines Erachtens für so einen runden Tisch, dass man auch die Eigentümer mit an den Tisch kriegt, weil die sind eigentlich der wichtigste Gesprächspartner, weil die entscheiden darüber, wird geräumt, wird vielleicht die Räumung, diese juristisch umstrittene Räumung der Wohnungen auch zurückgenommen. Das heißt, das müsste nicht nur ein Treffen sein zwischen den Bewohnern der Straße und der Politik, sondern die Eigentümer müssen mit an den Tisch, und die haben auch eine große Verantwortung für das, was passiert, auch wenn das in der Öffentlichkeit nicht so stark gesehen wird bisher.
Brink: Kommen wir noch mal ein bisschen weg von der Rigaer Straße ins Allgemeine. Das schreiben Sie auch in Ihrem Buch: Es funktioniert ja nicht, wie wir unser Wohnen organisieren. Warum funktioniert das nicht in solchen Großstädten?
Holm: Es funktioniert dann nicht, wenn preiswerte Wohnungen knapp werden, wenn die Grundstückspreise steigen, wenn also sehr hohe immobilienwirtschaftliche Ertragserwartungen auf eine beschränkte Zahlungsfähigkeit treffen. Und dann haben wir gleichzeitig dieses Phänomen, dass ja auch die Einkommen in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind. Das heißt, einige können sich sehr gut auch mit der neuen Situation arrangieren, sind bereit, sehr hohe Mieten zu zahlen. Und ein Großteil der Bewohnerschaft leidet einfach darunter, kann den eigenen Wohnstandard nicht mehr halten, kann nicht mehr in den Innenstadtbezirken wohnen, jetzt gerade, wo sie schön werden. Und das hat eine unglaubliche Sprengkraft.

Die Mietpreisbremse hat ihr Ziel nicht erreicht

Brink: Gut, aber das wissen wir ja schon lange. Aber was kann denn Politik tun? Sie hat ja versucht zu handeln. Es gibt die Mietpreisbremse. Hat das nicht funktioniert?
Holm: Die Mietpreisbremse zielt so knapp am eigentlichen Ziel vorbei. Sie garantiert ja einerseits nur Mieten knapp über dem Durchschnitt. Das heißt, sie nützt letztendlich auch nur den Haushalten mit Einkommen knapp über dem Durchschnitt. Das Problem haben wir aber bei denen, die weniger als der Durchschnitt verdienen. Die Mietpreisbremse hat so viele Lücken, dass sie tatsächlich in den strittigen Fällen, in denen Eigentümer versuchen, ihre Mieter zu verdrängen, überhaupt keine Wirkung entfalten kann, wenn es um Modernisierung oder Umwandlung geht, zum Beispiel!
Brink: Vielen Dank, Andrej Holm von der Humboldt-Universität zu Berlin, Sozialwissenschaftler am Lehrstuhl für Stadt- und Regionalsoziologie. Schönen Dank für das Gespräch!
Holm: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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