Postmodernes Rührstück

Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht skizziert in seinem neuen Buch eine Gegenwart der Simultaneitäten - eingeschlossen zwischen einer nicht mehr planbaren, bedrohlichen Zukunft und einer uns überflutenden Vergangenheit.
Wir Menschen sind Oberflächenwesen. Was unter die Haut geht, ist uns ein Gräuel oder ein Ausnahmezustand. Im Kino schaut sich unsere Gattung gerne an, wie intakte Menschenoberflächen zerschmettert werden, wie unsere Benutzeroberfläche des Lebens zerbricht. Der Wahl-Amerikaner Hans Ulrich Gumbrecht, von Hause aus Romanist, entwickelt aus Beobachtungen wie diesen eine kulturkritische These. In Büchern wie "Diesseits der Hermeneutik" oder "Lob des Sports" behauptete er, dass "trotz unser alltäglichen wie geisteswissenschaftlichen Konzentration auf Interpretation und Sinn – die Dinge der Welt, so wie wir auf sie stoßen, auch eine – in unserer Kultur fast immer übersehene – Dimension der Präsenz haben".

In dem schmalen Bändchen "Unsere breite Gegenwart" variiert er diese Gedanken und will nichts Geringeres liefern als eine "komplexe und in ihrer Form konturierte Diagnose der Gegenwart". Die Gegenwart sei breit, weil sie aus Simultaneitäten bestehe, die nebeneinander herwabern und keine historische "Sinn-Erzählung" mehr existiert oder hergestellt werden soll. Die breite Gegenwart kann Chance sein oder Fluch – in jedem Fall ist sie Hohn auf den Sinn-Sucher, der geschichtlichen Sinn rekonstruiert.

Wiederum ist der Sport ein markantes Beispiel für die erwünschte Oberflächlichkeit der Gumbrecht’schen Weltsicht. Es kommt ihm an auf ein Hinauswachsen im guten Moment, im "kairos" der gelungenen sportlichen Leistung. Bezeichnend aber ist, dass Gumbrecht nie einen Blick auf die maschinenhaften, ent-menschlichten Seiten des Sport wirft. Ein ausführliches Kapitel zum Sport geht zum Beispiel mit keinem Wort auf Doping ein.

Gumbrecht spricht pauschal von "Sinnkulturen" und "Präsenzkulturen", gibt aber keine Beispiele. Seine viel beschworene Präsenz könnte er an östlichen Meditationstechniken erläutern oder anhand der westlichen Mystik. Aber Gumbrecht stellt seine Kategorien nur apodiktisch in den Raum, seine Argumente verpuffen in der Holzschnitthaftigkeit seines Ansatzes. Letztlich zeugen sie von einem fröhlichen intellektuellen Selbsthass. Gumbrechts eigene Profession, die des Interpretierens und Erklärens von Textes, wird auf die Müllhalde der angeblich präsenz-feindlichen Sinnsuche geworfen – dennoch erzählt er rührend von Kleist-begeisterten Studenten.

Obwohl sich Gumbrecht durch einige Spitzen vom postmodernen Mainstream absetzt, gelingt ihm nicht mehr als ein postmodernes Rührstück. Die zeitweilige Heiterkeit seines Essays begrüßt der streckenweise gut unterhaltene Leser. Aber im Großen und Ganzen mäandert hier nur eine Intellektuellenkritik, wie man sie in den 1920er-Jahren etwa bei Ludwig Klages lesen konnte.

Besprochen von Marius Meller

Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart
Aus dem Englischen von Frank Born
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
143 Seiten, 12 Euro
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