Ikonische Konfigurationen
Einen Top-Favoriten gab es nicht vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft. Aber das ist alle vier Jahre so und hat damit zu tun, dass im Blick auf das je nächste Turnier immer - neben all den kleinen chauvinistischen Träumen - verschiedene Dimensionen von ernsthaftem Favoritentum koexistieren.
Die Spezialisten aus intellektuellem Anspruch entwerfen Prognosen ausgehend von den Ergebnissen der letzten Jahre: sie halten jetzt fest an der spanischen Nationalmannschaft und trauen Argentinien eine Überraschung zu. Daneben setzen die eher abgebrühten Stammtisch-Weisen auf Deutschland, Brasilien oder Italien - weil sie sicher sind, dass es nur so kommen kann. Schließlich gibt es auch eine kleine Fraktion von sozialromantisch Inspirierten, die nun, bei der ersten afrikanischen Weltmeisterschaft, einem Team dieses Kontinents den Sieg wünschen - und sogar zutrauen.
Mehr Geschichte geht in solche Voraussagen ein als bei anderen sportlichen Wettkämpfen und daran wird sichtbar, dass die Fußball-Weltmeisterschaft eine einzigartige Aura aus ihrer Vergangenheit gemacht hat. Es ist eine Aura von ikonischen Siegern und Verlierern, in deren Gestalten sich grosse Momente aus der Entwicklung des Fußballs verbinden mit dem Weg der Nationen, die ihn getragen haben.
Diese auratische Geschichte hat nicht nur die Imperien des internationalen Fußballs geformt, sondern auch Nebenrollen, die als Ansprüche oder Schicksale erlebt werden. So ist Uruguay, fast nur ein Stadtstaat zwischen Brasilien und Argentinien, nach seinen beiden Siegen von 1930 und 1950 noch mehrfach unter die besten vier Mannschaften gelangt; so unterlag das damals schon als Gesellschaft viel bewunderte Schweden Brasilien im kleinen Finale von 1938 wie im Endspiel von 1958, um 1994 noch einmal hinter Brasilien und Italien den dritten Platz zu erreichen.
Man muss kein in die Jahre gekommener Deutschland-Fan sein, um in den Endspielgegnern von 1954 die strahlendste und zugleich traurigste dieser Konfigurationen zu sehen. Das Wunder-Team aus Ungarn, in dem aller Glanz des über Jahrzehnte spektakulären südosteuropäischen Fußballs verdichtet war, das alle Rekorde gebrochen und alle Vorstellungen von sportlicher Schönheit überboten hatte, Ungarn, der haushohe Favorit, an dessen Stärke, wer immer wollte, auch die Überlegenheit des Sozialismus ablesen konnte, Ungarn verlor nach einem 8:3-Sieg in der Vorrunde und einer 2:0-Führung nach acht Minuten des Endspiels gegen elf deutsche Spieler ohne große nationale Fußball-Tradition - in deren kantigen Gesichtern sich noch Krieg und Nachkrieg der Besiegten zeigten.
Der 4. Juli 1954 wurde für Deutschland zum symbolischen Beginn von Wirtschaftswunder, Demokratie und auch Weltrang im Fußball, während der Sport in Ungarn sich nie erholt hat von der Bitternis dieses Tags, der bald sogar die gnadenlose Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung von 1956 eingeleitet zu haben schien.
Wie ein Bann wirkte es deshalb, dass keine sozialistische Nation - am wenigsten die fußballbegeisterte Sowjetunion selbst - je wieder soweit aufgestiegen ist wie Ungarn, der überlegene Zweite. Wer die Spiele in Südafrika verfolgt, taucht also ein - meist unbewusst zwar, aber nicht unbeeindruckt - in ein Konzert aus nationalen Rollen, die sich wie Synkopen zur politischen Geschichte verhalten: In dieser besonderen Vergangenheit werden die nie wirklich gewordenen Versprechen Südamerikas von 1930 lebendig; der Stolz und auch die Eleganz des faschistischen Italien; der glücklichste Moment der brasilianischen Nation bei ihrem ersten Sieg von 1958; Hollands ungekrönte Genialität aus den siebziger Jahren; der neue Stolz Frankreichs auf seine nordafrikanischen Bürger nach dem Triumph im Jahr 1998 - und, wer weiß, die vielleicht endlich aus Latenz in Tore umschlagende Kraft Afrikas.
Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu international renommiertesten deutschen Literaturwissenschaftlern. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.
Mehr Geschichte geht in solche Voraussagen ein als bei anderen sportlichen Wettkämpfen und daran wird sichtbar, dass die Fußball-Weltmeisterschaft eine einzigartige Aura aus ihrer Vergangenheit gemacht hat. Es ist eine Aura von ikonischen Siegern und Verlierern, in deren Gestalten sich grosse Momente aus der Entwicklung des Fußballs verbinden mit dem Weg der Nationen, die ihn getragen haben.
Diese auratische Geschichte hat nicht nur die Imperien des internationalen Fußballs geformt, sondern auch Nebenrollen, die als Ansprüche oder Schicksale erlebt werden. So ist Uruguay, fast nur ein Stadtstaat zwischen Brasilien und Argentinien, nach seinen beiden Siegen von 1930 und 1950 noch mehrfach unter die besten vier Mannschaften gelangt; so unterlag das damals schon als Gesellschaft viel bewunderte Schweden Brasilien im kleinen Finale von 1938 wie im Endspiel von 1958, um 1994 noch einmal hinter Brasilien und Italien den dritten Platz zu erreichen.
Man muss kein in die Jahre gekommener Deutschland-Fan sein, um in den Endspielgegnern von 1954 die strahlendste und zugleich traurigste dieser Konfigurationen zu sehen. Das Wunder-Team aus Ungarn, in dem aller Glanz des über Jahrzehnte spektakulären südosteuropäischen Fußballs verdichtet war, das alle Rekorde gebrochen und alle Vorstellungen von sportlicher Schönheit überboten hatte, Ungarn, der haushohe Favorit, an dessen Stärke, wer immer wollte, auch die Überlegenheit des Sozialismus ablesen konnte, Ungarn verlor nach einem 8:3-Sieg in der Vorrunde und einer 2:0-Führung nach acht Minuten des Endspiels gegen elf deutsche Spieler ohne große nationale Fußball-Tradition - in deren kantigen Gesichtern sich noch Krieg und Nachkrieg der Besiegten zeigten.
Der 4. Juli 1954 wurde für Deutschland zum symbolischen Beginn von Wirtschaftswunder, Demokratie und auch Weltrang im Fußball, während der Sport in Ungarn sich nie erholt hat von der Bitternis dieses Tags, der bald sogar die gnadenlose Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung von 1956 eingeleitet zu haben schien.
Wie ein Bann wirkte es deshalb, dass keine sozialistische Nation - am wenigsten die fußballbegeisterte Sowjetunion selbst - je wieder soweit aufgestiegen ist wie Ungarn, der überlegene Zweite. Wer die Spiele in Südafrika verfolgt, taucht also ein - meist unbewusst zwar, aber nicht unbeeindruckt - in ein Konzert aus nationalen Rollen, die sich wie Synkopen zur politischen Geschichte verhalten: In dieser besonderen Vergangenheit werden die nie wirklich gewordenen Versprechen Südamerikas von 1930 lebendig; der Stolz und auch die Eleganz des faschistischen Italien; der glücklichste Moment der brasilianischen Nation bei ihrem ersten Sieg von 1958; Hollands ungekrönte Genialität aus den siebziger Jahren; der neue Stolz Frankreichs auf seine nordafrikanischen Bürger nach dem Triumph im Jahr 1998 - und, wer weiß, die vielleicht endlich aus Latenz in Tore umschlagende Kraft Afrikas.
Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu international renommiertesten deutschen Literaturwissenschaftlern. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.