Kommentar

Debattenkultur: die populistische Verengung des Horizonts

04:36 Minuten
Eine Illustration zeigt einen übergroßen geöffnten Mund, der in ein Mikrofon zu schreien scheint.
Zeit zum Zögern, Überdenken und Differenzieren ist bei politischen Debatten eigentlich nötig, meint die Philosophin Gesine Palmer - doch Populisten verzichten gern darauf. © IMAGO / Westend61 / Gary Waters
Ein Einwurf von Gesine Palmer |
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Die Politik bedient sich immer öfter populistischer Rhetorik. Scheinbar harmlose Sätze wie „Was muss eigentlich noch passieren, damit …“ sind im Kern polemisch und unterstellen den Bürgern Denkfaulheit.
Populismus, diese Anbiederung an die vermeintliche Schlichtheit des „populus“, des Volkes – sie redet die unterstellte Schlichtheit oft erst herbei. Es lohnt sich, auf die Sprache, in der das geschieht, zu achten. Da werden scheinbar glasklare Problemlagen diagnostiziert und sehr einfache Lösungen propagiert – als wäre die Welt mit ihren Problemen jemals glasklar und einfach, als gäbe es nur diese eine mögliche Antwort auf diese eine mögliche Frage, die nach einem einschneidenden Ereignis in den Mittelpunkt gerückt wird.
Zeit zum Zögern, Überdenken und Differenzieren möchte man dem armen Volk nicht zumuten oder zutrauen. Das Volk werde sich, so hofft man, um diejenigen scharen, die nach dem traumatischen Ereignis schnell und scharf handeln. Das passiert leider auch oft.
Dabei sollten Demokrat*innen wissen, dass immer erst einmal zur Debatte steht, wie die richtige Antwort auf ein Ereignis aussehen kann. Wer mitdenkt, stellt auch die Fragen, die ein schreckliches Ereignis aufwirft, etwas weiträumiger. Die Frage „Was muss eigentlich noch passieren, damit …“ hingegen verengt den Fragehorizont auf ein einziges Ziel, auf ein einziges Ventil für die Abfuhr des Schreckens. Darüber hinaus enthält sie ein Gift auch gegen das „eigene Volk“, dem sie doch zu schmeicheln antritt.

Populismus unterstellt den Menschen Trägheit

Sie unterstellt: Die Menschen sind faul, denken vielleicht, ja, da müsste man was machen, aber drehen sich dann doch lieber noch einmal um und schlafen weiter, während um sie her die Welt untergeht, die Arbeit liegen bleibt, der Bauch wächst. Nur bei sehr starken äußeren Impulsen begreifen sie: Die Lage ist ernst, sie müssen jetzt wirklich etwas machen, ins Handeln kommen. Dass uns manchmal nur Trägheit die Gründe diktiert, aus denen wir lieber nichts tun, dass uns zuweilen ein äußeres Ereignis den letzten Anstoß gibt, einen lange schon erwogenen Vorsatz in die Tat umzusetzen – das ist ja alles nicht falsch.
Populistisch wird es jedoch, wenn die Frage „Was muss eigentlich noch passieren?“ suggeriert, es sei längst klar, was zu tun ist. Dann wird die Idee, ein paar massive Ereignisse fehlten, um allen klarzumachen, dass diese oder jene Aktion „alternativlos“ sei, ideologisch, sogar gefährlich. So ist das leider in der Politik häufig. Dabei kann das moralische Urteil über terroristische Angriffe ja nur eindeutig ausfallen.
Was aber wäre die angemessene, die moralisch gewollte, die politisch kluge Antwort? Da stellen sich Fragen, die durch kein noch so drastisches Ereignis von selbst und für alle beantwortet sind. Fragen wie: Wie kann das Gewaltmonopol in demokratischen Staaten die Sicherheit aller Bürger*innen besser schützen?
Glaubt man, die eigenen Sicherheitsinteressen nur auf Kosten der Sicherheit der Nachbarn verwirklichen zu können – oder hält man es für geschickter, auch deren Sicherheitsinteressen entgegenzukommen?

Verbrechen und Grenzkontrollen

Hält man es für klug, nach jedem Verbrechen, das in unserem Land von Nichtdeutschen verübt wird, Grenzkontrollen und mehr Lasten für die Nachbarn zu fordern – oder kümmert man sich eher um erfolgreichere Integrationsarbeit? Glaubt man an langfristig gute Beziehungen zu Ländern, denen man ihre Fachkräfte abjagt und ihre Kriminellen zurückschickt – oder arbeitet man an besser ausgewogenen Verhältnissen für beide Seiten?
Wie können Migrationsbewegungen so reguliert werden, dass einer möglichst großen Zahl von Menschen in der Welt ein möglichst gutes Leben ermöglicht wird? Und wird ehrliche Arbeit an der Verbesserung der Verhältnisse wirklichen Terror verhindern? Alle diese Fragen können sehr wohl ohne Hass und Ressentiment diskutiert werden.
Aber die hetzende Frage „Was muss erst passieren, damit?“ bringt Gift in jede Diskussion. Wo die populistische Rede dem Volk nach terroristischen Ereignissen erst Trägheit unterstellt und es dann zu Antworten aufpeitscht, die mindestens politisch unklug sind, da wäre das Volk gut beraten mit einer Gegenfrage an solche Politiker. Sie würde lauten: Wie redet ihr eigentlich mit mir?

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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