Polizei zwischen Hochachtung und Autoritätsverlust

Bürgerpolizei oder "Bullenschweine"?

Zum Teil vermummte Randalierer bewerfen Polizisten mit Steinen.
Zum Teil vermummte Randalierer bewerfen Polizisten am 7. Juli 2017 in Hamburg mit Steinen. © AFP/Odd ANDERSEN
Von Rosemarie Bölts · 17.07.2017
Alle Gewalt geht vom Staate aus. Polizisten machen allerdings auch umgekehrte Erfahrungen: Allein in Bayern wurden 2015 knapp 15.000 von ihnen verbal oder tätlich angegriffen. Doch steckt hinter diesem Autoritätsverlust wirklich gesellschaftlicher Werteverfall?
- "Welche Erfahrungen haben Sie mit Polizisten?"
Gute, bisher nur! Auf dem Fahrrad kontrolliert, ob das Licht an ist. Die waren freundlich und nett, und alles gut!"

- "Früher, das war eher Scheiß-Bullen, ACAB, heutzutage respektiere ich die und sehe, was die für ne harte Arbeit machen."
- "Ich fand’s toll, als der Weihnachtsmarkt hier oben war, die Polizisten davorstanden, da fühlte ich mich schon ein bisschen sicherer."
- "Also, ich muss sagen, schon dein Freund und Helfer, ne."
- "Nazihure, Fotze, Schlampe, das hört man öfter mal. Meistens ist es die Uniform, die viele Leute auch abschreckt oder erregt."
- "Wenn jemand ACAB ruft, all cops are bastards, schreiben viele Kollegen auch Anzeigen. Ja, wir sollten uns das nicht gefallen lassen, natürlich nicht, aber ich persönlich steh da drüber."
Was also stimmt? Die Polizei – dein Freund und Helfer? Oder "all cops are bastards"?

Keine Berufsgruppe genießt so viel Ansehen und Vertrauen

Zum einen, so hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa festgestellt, steht die Polizei im Ranking von Ansehen und Vertrauen an oberster Stelle, noch vor Ärzten und Bundesverfassungsrichtern. Zum anderen klagen vor allem die beiden Polizeigewerkschaften GdP und DPolG, nehme die Gewalt gegen Polizisten zu, würden auch die Verbalinjurien immer hemmungsloser:
"GdP-Bundesvorsitzender Oliver Malchow: Wirksamer Schutz von Polizisten überfällig!"

"Das jahrelange politische Handlungsvakuum hat hierzulande zu einem Respekt- und Autoritätsverlust und einer Spirale der Gewalt geführt."
Und der Vorsitzende der Polizeibeamtengewerkschaft DPolG, Rainer Wendt, sieht in seinem jüngsten Buch gleich die ganze Republik in Gefahr:
"Das Gewaltmonopol des Staates schmilzt wie Eis in der Sonne!"

Polizisten müssen im Dienst einiges aushalten

Laut Statistik des Bundeskriminalamts sind im letzten Jahr bundesweit über 64.000 Polizisten im Dienst "Opfer einer Straftat" geworden. Das heißt, mehr als 64.000 Polizeibeamte haben Strafanzeige erstattet. Weit über 80 Prozent der Täter sind Männer. Wenn man die Bilder von den jüngst brutal eskalierenden G20-Krawallen in Hamburg sieht und von über 300 verletzten Polizisten hört, bekommt man eine Ahnung, was Polizisten manchmal aushalten müssen.
Die Gruppe von Polizisten steht im Dunkeln in voller Kampfmonitur mit Schildern neben einem Wasserwerfer.
Bei gewaltsamen Protesten gegen den G20-Gipfel stehen Polizisten am 07.07.2017 im Schanzenviertel in Hamburg neben einem Wasserwerfer.© Bodo Marks / dpa
Auch die Opfer sind vorwiegend Männer, hauptsächlich sind es Polizisten im Einsatz- und Streifendienst. Über zwei Drittel ihrer Anzeigen wurden wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und einfacher Körperverletzung gestellt. Darunter fallen Nötigung, Beleidigung, Schubsen, Spucken, Treten, eher Bagatelldelikte. Etwa ein Zehntel der Beamten wurde erheblich verletzt, bis zur zeitweiligen Dienstunfähigkeit. Manchmal wird auch geschossen. Schlagzeilen:
"Polizistin in Lebensgefahr: In einem Münchner S-Bahnhof ist einer 26-jährigen Polizistin in den Kopf geschossen worden. Täter ist ein 37-jähriger Deutscher."
"Ein Strafzettel, eine wüste Schlägerei und zehn verletzte Polizisten in Aachen. Einem der Beamten wurde mit einem Radmutternschlüssel die Augenhöhle zertrümmert."
Repräsentativ kann diese Sendung sowieso nicht sein, schließlich ist Polizei Ländersache, und dementsprechend variieren die Diskussionen um Innere Sicherheit und Sicherheitspolitik von Bundesland zu Bundesland, wie am Beispiel des Stadtstaats Hamburg, derzeit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen regiert und Gastgeber der G20-Regierungschefs, und der Landeshauptstadt München, wo die Polizei zum CSU-geführten, bayerischen Innenministerium gehört, deutlich wird. Aber die Recherche sollte intensiv werden.

Weder Held noch Opfer

Hamburg-Wandsbek. Am häufigsten haben sie es hier mit Diebstahl, Haus- und Wohnungseinbrüchen, Ruhestörungen und Verkehrsordnungswidrigkeiten zu tun, auch mit häuslicher Gewalt, vermissten Personen, Überfällen. Eher weniger mit Raub und Mord oder Drogendelikten - die konzentrieren sich auf die Hot Spots der Innenstadt. Dort finden auch die, wie es im Polizeijargon heißt, "Großlagen" statt: Demonstrationen, Fußballspiele, programmierte Randale.
"Wir sorgen dafür, dass sich andere Gruppen nicht soweit in die Haare kriegen, das ist unser Auftrag. Also, man sieht sich weder an der Speerspitze als Held noch in der Opferrolle."
Die Polizei ist schließlich kein Ponyhof, stellt Polizeihauptkommissar Raimo Kossakowski, Leiter des Trainingszentrums der Hamburger Polizei, nüchtern fest. Hier, im neuesten und größten Schießübungszentrum Europas, wird nicht nur sportlich ausgebildet, sondern auch regelmäßig mit den 7000 Schusswaffenträgern trainiert.
Und man ist, wie in München und anderen Städten auch, sehr gern bei den Modellversuchen mit "BodyCams", Körperkameras auf Polizistenschultern, dabei. Sie sollen abschrecken und deeskalierend wirken.
Der Hamburger Polizeiführer für G20, Hartmut Dudde (l-r), Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) und Hamburgs erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) beim Konzert in der Elbphilharmonie.
Konzert für Polizisten in der Elbphilharmonie - mit Bundesinnenminister de Maiziere und Hamburgs erstem Bürgermeister Scholz. © dpa- Bildfunk / Daniel Bockwoldt
Zurück in Wandsbek. Knapp 18.000 Einsätze im vergangenen Jahr, davon in einer Tages- und einer Nachtschicht: Verkehrskontrolle wegen Alkoholverdachts, wiederholter Diebstahl eines Rumpsteaks im Supermarkt, Raub in der Apotheke im Einkaufszentrum, Anruf eines Zehnjährigen wegen seiner vermissten Mutter, nächtliche Lärmbelästigung durch Jugendliche auf einem Parkdeck, Festnahme von Serieneinbrechern in Spielhallen, Feueralarm in einer Wohnung, was sich nach einem aufwendigen Einsatz als vorzeitig losgegangener Rauchmelder herausstellt.
Polizeialltag. Das alles live von der Reporterin "auf Streife" miterlebt, aber nicht mitschneiden dürfen. Obwohl im Vorfeld alles genehmigt war, kam kurz vor der Schicht vom Polizeipressesprecher die strikte Anweisung an die Polizisten im K 37 und das unmissverständliche Verbot für die Reporterin, ja keine Tonaufnahmen für die Radiosendung zu machen. Begründung des Hamburger Polizeipressesprechers, wörtlich: "Ich kenne Sie ja gar nicht!"

Der Bürger versucht, seine Grenzen auszutesten

"Als Polizeibeamter wird man immer zwischen den Stühlen stehen, weil man das Gewaltmonopol des Staates vertritt, also ein Alleinstellungsmerkmal hat, und das wird eben mittlerweile in Frage gestellt."
Polizeirat Ulf Bettermann-Jennes hat bereits 15 Jahre Berufserfahrung gesammelt und währenddessen drei Studiengänge an Polizeihochschule und Universität absolviert. Er gehört mit 38 Jahren zu der Generation, die die Polizei als Teil der Gesellschaft kritisch reflektiert und findet, die Polizei müsse nicht die Gesellschaft verändern, sondern lernen, mit der sich verändernden Gesellschaft umzugehen und dabei zu differenzieren:
"Der Beruf des Polizisten ist ein Erfahrungsberuf. Und genauso, wie ich am Anfang der Meinung gewesen bin, boh, jetzt bin ich Polizist und jetzt rett ich die Welt in Hamburg und trete für das Gute ein, so wird man sich auch irgendwann mal die Frage stellen, was ist denn das Gute? Ist das Gute nicht auch relativ? Ist das Gute nicht auch ein Stück weit subjektiv?"
Der Bürger versuche, so der Stabsleiter des Wandsbeker Kommissariats, seine Grenzen auszutesten. Er frage immer mehr nach der Begründung für die "Maßnahme" - und der Polizist solle sie argumentativ belegen:
"Man trifft immer wieder auf die Argumentation, ich wollte doch nur meine Frau kurz rauslassen, die ist in die Apotheke, ist gleich wieder weg, dazu brauch ich doch nicht extra einen Parkplatz suchen. Dass sich aber dahinter alles staut, und andere dadurch eine Störung erfahren, das wird nicht mehr wahrgenommen. Das mündet in einer Art Rücksichtslosigkeit, die kleinste Bereiche schon betrifft."

Tragen Polizisten Verantwortung für die Eskalation?

Die gesellschaftliche Entwicklung laufe darauf hinaus, dass der Einzelne, so Polizeirat Ulf Bettermann-Jennes, staatliche Einrichtungen wie die Polizei gern für sich persönlich, sozusagen als Dienstleister, in Anspruch nimmt, frei nach dem Motto: "Dafür zahle ich ja schließlich Steuern!" – aber dabei das Ganze, nämlich die Gesellschaft, aus den Augen verliert. Und nicht nur Jugendliche lassen sich dabei gern durch die Gruppe anfeuern:
"Jungen Kollegen muss man das manchmal vor Augen führen, eine Frustrationstoleranz entwickeln müssen, isolier doch mal den Rädelsführer, versuch doch einfach mal, dem vernünftig zu erklären, worum es geht, der fühlt sich geehrt, wenn die Polizei einzeln mit ihm spricht, und der setzt dann auf seine Leute ein als Multiplikator eben, dann brauch ich nicht vor 'ner Meute von 15 angetrunkenen 16-18-Jährigen mir die Seele aus dem Leib brüllen, sondern man versucht's über diese Schiene."
A propos. Im Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg sind drei Einsatzhundertschaften der Berliner Polizei außer Rand und Band geraten. In Mannschaftsstärke an den Zaun pinkeln, Sex mit der Kollegin in der Öffentlichkeit, herumgrölen. Viel Alkohol ist geflossen. Kein gutes Bild. Und die Berliner Polizei? Hat nun ein richtig großes Autoritätsproblem.
Container stehen auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne in Bad Segeberg (Schleswig-Holstein).  Die Berliner Polizisten, die noch nicht zum G20-Einsatz in Hamburg gekommen waren, seien mit «sofortiger Wirkung» daraus entlassen worden,
In dieser Unterkunft auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne in Bad Segeberg habe eine Minderheit der Berliner Beamten ein "unangemessenes und inakzeptables Verhalten" gezeigt.© dpa / Bodo Marks
Ulf Bettermann-Jennes hat 2014 im Rahmen seines Master-Studiums in Kriminologie eine Studie mit dem Titel "Lässig bleiben? Respektlosigkeiten und Autoritätsverlust im Erleben von uniformierten Streifenpolizisten" verfasst. Das Ergebnis: die befragten Polizisten und Polizistinnen erwarten vom Bürger in einer emotional mehr oder weniger angespannten Situation "normales" Verhalten, gute Umgangsformen, bedingungslose Unterordnung.
Kurz, man zieht sich auf seinen Status in Uniform zurück, reagiert aber auf der Beziehungsebene und schafft somit unter Umständen eine emotionale Spirale der Eskalation, Gewalt nicht ausgeschlossen.
"Als ich das erste Mal festgenommen wurde, da waren die noch nicht so aggressiv. Aber beim zweiten Mal, schön Hände an die Wand, mit den Knien auf dem Boden dann. Einem Kumpel von mir haben die auch den Arm gebrochen, er lag auf dem Boden, und die haben sich dann mit den Knien draufgesetzt. Dann war der Arm durch."
Stefan, 24, Punk. Blau gefärbte Haare, freundliches Gesicht. Ein liebenswerter junger Mann mit einer deprimierenden Biografie. Seit seinem sechsten Lebensjahr Heimerfahrung, Jugendknast, Komasaufen, Psychiatrie. Wer wie er im Laufe seines kurzen Lebens so getreten und behandelt wird, hat mit staatlicher Autorität nichts mehr im Sinn.
"Zu mir sagen sie Assi-Punk, nur, weil ich blaue Haare habe. Und wenn ich dann 'ne Bierflasche hab, dann kriegen sie die Bierflasche aufs Auto geschmissen. Natürlich finden die das nicht gut. Sobald ich beleidigt werde, beleidige ich zurück, weil, ich lass mir sowas nicht gefallen."

40 Interessenten für den Polizeidienst beim Info-Abend

Hamburg-Alsterdorf, hier befindet sich die zentrale Aus- und Fortbildungsstätte der Polizei. Auf dem Gelände finden auch die "Inhouse Info-Veranstaltungen" statt, für alle, die sich für den Polizeiberuf interessieren. Etwa 40 Jungen und Mädchen haben sich heute abend angemeldet, begleitet vom Freund, von der Freundin, oder von der Mutter:
- "Ich find’s cool, wenn man was Gutes tut für die Gesellschaft, find ich gut, ja, ich find Polizei cool."
- "Also, ich bin 24, ich sag mal, die Aufstiegschancen sind super, das Gehalt ist super, und man kann sich weiterbilden. Ich hab ein Diplom, hab schon ne abgeschlossene Ausbildung, Fachabitur, alles, ist so ne Art Hintertürchen, falls alle Stränge reißen, geh ich zur Polizei."
- "Bei mir ist die Frage, ob ich geistig genug gefordert werde. Ich hab ein sehr gutes Abi gemacht."
– "Wie war die Note?"
- "1,7 hab ich."
Die Anforderungen sind hoch. Sport, Deutschtest, Aufnahmeprüfung. Abitur oder ein guter Realschulabschluss sind da schon hilfreich. Nachdem man nicht nur in Hamburg plötzlich festgestellt hat, dass einerseits in den nächsten Jahren Zigtausende Polizeibeamte in den Ruhestand gehen und andererseits die Aufgabenbereiche gewachsen sind, Stichwort Internetkriminalität und Terrorismusgefahr, wird auf allen Kanälen eine flippige "Einstellungsoffensive" gefahren.
Nicht quietschende Reifen und Revolverhelden, sondern Empathie und soziale Kompetenz sind gefragt. Zwei Jahre dauert die Ausbildung für die mittlere, drei Jahre für die gehobene Laufbahn.
"ATEMLOS DURCH DIE STRASSEN UNSERER STADT!
STREIFENWAGEN STATT NADELSTREIFEN!
ZEIG UNS, WAS DU KANNST!"

Nur jeder siebte Bewerber schafft es in die Ausbildung

Über tausend Bewerbungen, da kann man schon Ansprüche stellen und sich die Besten aussuchen. Von sieben Bewerbern und Bewerberinnen schafft es auch nur einer in die Ausbildung. 500 junge Polizisten werden in Hamburg jedes Jahr eingestellt, viele davon mit Migrationshintergrund, viele Quereinsteiger.
Den "Zeitgeist" macht Akademieleiter Thomas Model an der Vielfalt der Biografien, der multikulturellen Herkunft und dem bald vierzigprozentigen Frauenanteil an den dann 8000 Polizisten in Hamburg aus. Das mache offener, toleranter, reflektierter, stellt der alerte Direktor fest, das verändere die Kultur der Polizeiarbeit:
"Wir haben in den letzten Jahren unseren Anteil an sozialwissenschaftlichen Lehrinhalten ausgebaut. Gewalt gegenüber Minderheiten, Gewalt gegenüber Schwulen, Lesben, Transgender, Umgang mit Flüchtlingen, Zivilcourage, Ethikseminare, nicht nur juristisch, Zivilrecht, Strafrecht, Polizeirecht zu beherrschen, sondern tatsächlich auch die sozialwissenschaftlichen Kompetenzen haben. Also wirklich immer mehr das Thema Sozialarbeit als Kernthema der Polizeiarbeit."
Randalierer stehen vor einen Wasserwerfer der Polizei.
Ausschreitungen nach dem Schanzenfest in Hamburg am 5.09.2010© dpa/Angelika Warmuth
Akademieleiter Thomas Model möchte, dass sich die Polizei wieder mehr als Ansprechpartner für die Bürger begreift. Bürgerpolizei habe mit Bürgernähe zu tun. Autoritätsverlust? Die Grenzen haben sich verschoben, meint Thomas Model. Es gehe um Provokation:
"Ein Ausspucken vor die Füße, wo Sie genau an der Schwelle sind - ist das schon was Materielles? Und das ist es oftmals nicht. Dann kommt das Smartphone, dann kommt nochmal das Ausspucken, wann reagiert er denn endlich, und ich treibe die Provokation auf die Spitze. Das ist das Problem."

Nicht "Werteverfall" ist ursächlich für den Autoritätsverlust, sagt Rafael Behr

Rafael Behr ist Professor für Politik, Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg. Einer, der versucht, seinen Studenten "Lust auf den Blick über den Tellerrand hinaus zu machen" und die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Polizeiarbeit aufzuzeigen. Kapitalismuskritik, Ideologiedebatte und Politikanalyse inklusive. Kein Feld, um sich in der festgefügten Welt der Polizei beliebt zu machen:
"Die Polizei stand noch nie da und lässt sich einfach so als Spielball einer immer gewalttätigeren und immer roheren Gesellschaft verletzen. Dieses Bild ist ne Verzerrung, auch 'ne gewollte Verzerrung, weil dadurch Mitleid entsteht, aber keine Bewunderung."
Leider, so Professor Rafael Behr, beachte die Polizeiführung zu wenig, dass nicht der viel beschworene "Werteverfall" ursächlich für den Autoritätsverlust sei, auch nicht "die Verrohung der Gesellschaft", sondern unterschiedliche Interaktionsregeln, die die Polizei oft nicht verstehe. Statt das jetzt "Gewalt" zu nennen und die Polizei aufzurüsten, fordert der Polizeiwissenschaftler, mehr Wert auf kommunikative Kompetenz zu legen:
"Die Belastungen der Polizei sind nicht die, dass auf 'ner Demo Gewalt ausgeübt wird. Das haben die trainiert, das können die. Aber diese vielen Ohnmachtserfahrungen, dass man eigentlich was sagen wollte, aber nicht darf. Ich glaub, viele Konflikte, in die Polizisten verwickelt sind, entstehen durch die Furcht vor dem Verlust von polizeilicher Autorität."
Polizei handelt nicht nur in ihrer Funktion, sondern erzeugt Wirkung. Darüber und über die Befindlichkeiten, die sie beim Bürger erzeugt, weiß die Polizei sehr wenig. Will sie es wissen?
"Die ganzen Funktionäre, die sagen, unsere armen Polizisten werden jeden Tag geschlagen, bespuckt, getreten. Da hat nie jemand Wert drauf gelegt, fortzusetzen und zu fragen, was mit denjenigen passiert, die spucken, schlagen, treten und beleidigen? Also, der Großteil der Raten an Steigerung von Beleidigungsdelikten, von Körperverletzungen ist eine Steigerung der Sensibilität der Polizei, weil sie mehr anzeigt."

Neue Prioritäten in den Polizeiaufgaben

Die Prioritäten der Polizeiaufgaben haben sich geändert, erklärt der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr. Beispiel G20. Zwanzig Regierungschefs, die mit ihren Delegationen wie jetzt in Hamburg von 20.000 Polizisten geschützt wurden, und nicht nur die Demonstranten fragten, vor wem eigentlich. Bis Hunderte von sogenannten "Autonomen", die in ihrem Outfit und mit ihrer Brutalität eher IS-Terroristen ähneln, ganze Straßenzüge, Häuser und Autos in Brand setzten, Geschäfte plünderten, mindestens drei Hundert Polizisten verletzten und stolz ihren vermummten Vandalismus auf Youtube präsentierten. Trotz des massiven Polizeiaufgebots.
Die Hamburger Bürger fühlten sich nicht geschützt. Rafael Behr:
"Wenn heute ein Polizeipräsident oder Innenminister sagen müsste, ich kann's nicht mehr ertragen, dass so viele Fahrräder geklaut werden, ich verwende meine gesamte Personalressource, mache Sonderkommission Fahrraddiebstahl, hätten wir eine exorbitante Aufklärungsquote über Fahrräder. Das interessiert keinen.
Wenn aber Minister und Staatslenker sich treffen und sagen, wir wollen das mitten in der Stadt machen, weil wir gut vernetzt sind mit unserer Zivilgesellschaft. Wir wollen das in Hamburg machen, dann kriegen wir hier Autos und Personal und Geld für alles, nur nicht für die Kleinigkeiten. Und das merken Polizisten auch, dass das, was ihnen ehemals wichtig war und auch gut gelungen ist, das das heute nicht mehr gut gelingt."
Polizisten nach dem Spiel des Regionalligisten SV Waldhof Mannheim gegen SF Lotte im Mai 2016.
Sicherheit im Fußballstadion: Polizisten nach dem Spiel des Regionalligisten SV Waldhof Mannheim gegen SF Lotte.© dpa / picture alliance / Ronald Wittek
Nach turbulenten Jahren, in denen unter anderem auch ein aus Bayern importierter Polizeipräsident und ein rechtslastiger Innensenator für bad publicity sorgten, plädiert SPD-Innensenator Andy Grote für eine "offene Fehlerkultur" und Zivilcourage in einer Bürgerpolizei. Das bedeutet auch, dass er – nicht zuletzt wegen der hohen Migrations- und Flüchtlingszahlen - ein "Institut für Transkulturelle Kompetenz" an der Polizeiakademie institutionalisiert hat, um – so wörtlich - " sicher zu stellen, dass die kulturelle Vielfalt sich auch in der Ausbildung der Polizei widerspiegelt":
"Bei meiner Vereidigungsrede gebe ich denen immer mit, dass es im polizeilichen Auftreten nur die Steigerungsform gibt von freundlich, wenn man damit nicht weiterkommt, ist man höflich, und wenn das nicht reicht, dann ist man korrekt. Und auch das geb ich denen mit, das ist eine extrem hohe Verantwortung, das hat immer was auch mit Menschenwürde zu tun. Und egal, in welcher Einsatzsituation ich mich befinde, ich muss immer die Würde der Menschen, mit denen ich umgehe, achten und dafür sorgen, dass die nicht verletzt wird."

Gefühlt wie zwischen Woodstock und Wackersdorf

Sicherheitskonferenz in München, Februar 2017. 4000 Polizisten aus der ganzen Republik schützen die private Tagung von Politikern und Militärs vor der genauso rituell ablaufenden Demonstration gegen deren Politik. Jedes Jahr wieder fühlt es sich wie zwischen Woodstock und Wackersdorf an. Die einen pfeifen auf Autoritäten, die anderen müssen Autorität durch martialische Ausrüstung und oft auch durch solches Verhalten demonstrieren:
"Ich hab keine Achtung vor der Polizei…"
"Bayern ist ein Polizeistaat!"
Alle Gewalt geht vom Staate aus? Seit 2009 wird in Bayern eine Statistik über Anzeigen gegen Polizeibeamte erhoben. Aber erst 2013, nachdem skandalöse Übergriffe der Polizisten durch die Medien gewälzt wurden, hat Innenminister Herrmann die "Zentralstelle beim Landeskriminalamt für Ermittlungen gegen Polizeibeamte" eingerichtet. Demnach weist die Statistik allein für Bayern jährlich 1000 Ermittlungsverfahren aus. 97 Prozent davon werden eingestellt. Zwölf Verurteilungen in zwei Jahren.
"Absolute Einzelfälle, bei 40.000 Polizisten in ganz Bayern", betont Joachim Herrmann, seit 2007 bayerischer Staatsminister des Innern, für Bau und Verkehr. Markige Worte für ein Autoritätsproblem, das in Bayern für den CSU-Innenminister keines ist:
"Am Schluss bleibt: Polizisten sind auch Menschen, die Fehler machen, auch unentschuldbare Fehler. Und so, wie es unter Tausenden von Lehrern auch einen gibt, der mal ein Kind missbraucht. So gibt es natürlich auch Polizeibeamte, wir haben in Deutschland ungefähr 270.000 Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen, also, man muss da schon zwischen Anzeigen und dem, was ein Richter am Schluss tatsächlich als Tatbestand feststellt, schon unterscheiden."

"Wir setzen auf einen starken Staat und eine starke Polizei!"

Wenn überhaupt, dann zählen die "Angriffe" gegen Polizeibeamte, die "mit aller Entschlossenheit" vom Staat geschützt werden müssten. Der bayerische Innenminister, für die nächste Wahlperiode von seiner Partei als Bundesinnenminister empfohlen, verweist auf die "Investitionen" Bayerns in die Sicherheit. Die modernste Ausstattung – unter anderem wurden für schnellere Fahrzeuge, bessere Waffen, Spuckschutzhauben und spezielle Einsatzanzüge letztes Jahr insgesamt 351 Millionen Euro ausgegeben -, der relativ ausgelastete Personalstand, die beste Bezahlung, das motiviere die Beamten.
Der Erfolg gebe ihm recht, Bayern ist mit seiner Kriminalstatistik Klassenprimus unter den Bundesländern:
"Ich sage ganz klar, wir setzen auf einen starken Staat und eine starke Polizei!"
Aber die "starke" bayerische Polizei hat nicht nur wegen eklatanter Übergriffe, Körperverletzungen und Todesschüsse Schwachstellen. Als im Oktober ein junger Polizist bei einer Hausdurchsuchung von einem so genannten "Reichsbürger" erschossen wurde, stellte Innenminister Herrmann plötzlich fest, dass es allein in den Reihen der Polizei 15 dieser bislang als "Spinner" ignorierten Autoritäts- und Staatsverweigerer gibt, insgesamt entdeckte man in Bayern 1700. Auf die Frage, ob die der bayerischen Polizei, den Kollegen, den Vorgesetzten und dem Verfassungsschutz nicht schon vor dem Mord an dem Kollegen aufgefallen sind, was doch vielleicht auch auf ein Autoritätsproblem deuten könnte, reagiert der CSU-Innenminister gereizt:
"Ich weiß es nicht, ob man es merkt, wenn ich so fragen darf, hat in allen Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten überhaupt schon überhaupt jemand in den letzten Monaten überprüft, ob da jemand von Reichsbürgern unterwegs ist? Ich glaube eher, dass es viele Organisationen in Deutschland gibt, wo man noch nicht angefangen hat zu fragen, ob es Reichsbürger gibt."
Der CSU-Minister im ewigen Wahlkampfmodus. Man kennt es nicht anders. Dabei sieht es doch auch im Freistaat ganz gut aus. Die Ausbildung umfassend: neben den rechtlichen und praktischen Grundlagen Stressbewältigung, politische Bildung, soziale Kompetenz. Die Führung Münchens mit seinem Polizeipräsidenten Hubertus Andrä: skandalfrei.
Das medial vermittelte Bild in der Öffentlichkeit: so souverän beim Amoklauf im vergangenen Jahr, dass sich die Polizei seitdem nicht vor Bewerbungen retten kann. Nicht minder bild- und öffentlichkeitswirksam: der herzliche Empfang der Flüchtlingsmassen am Münchner Hauptbahnhof.
Flüchtlinge, darunter viele Frauen und Kinder, kommen am Hauptbahnhof in München an und gehen von Polizisten begleitet durch den Bahnhof.
Auch in der Nacht auf Samstag, 12.9.2015, kamen wieder viele Flüchtlinge mit einem Zug aus Budapest am Münchner Hauptbahnhof an.© picture alliance / dpa/ Andreas Gebert

Schlechtes Vorbild der Gesellschaft

Der GdP–Landesvorsitzende Peter Schall braucht als Gewerkschafter keinen assistierenden Polizeipressesprecher, der sonst immer dabeisaß. Er sieht einen Zusammenhang von der Aufhebung der Sperrstunde im Jahr 2005 und der sprunghaften Zunahme von Widerstandshandlungen gegen Polizisten. Und er ist der einzige Interviewpartner, der auf Vorbilder in der Gesellschaft hinweist:
"Da ist auch 'ne Diskussion uns schädlich, wenn damals das Bundesverfassungsgericht sagt, ein Flugzeug mit Passagieren darf nicht abgeschossen werden, und dann der Verteidigungsminister sagt, ja, wenn’s soweit ist, dann mach ich's trotzdem. Ja, wenn die Meinung des höchsten Gerichts nichts wert ist, wie will ich dann den jungen Menschen den Wert vermitteln, das, was in unseren Gesetzesbüchern drinsteht, hast du bitte einzuhalten!"
Wie will man zum Beispiel von Bayerns Polizisten eine Einhaltung der Gesetze verlangen, wenn man die Geschichte des vormaligen Münchner Polizeipräsidenten Wilhelm Schmidbauer kennt? Der fiel genau zwei Mal in seiner zehnjährigen Amtszeit auf. Einmal, als er sich vom gesetzesuntreuen Sohn des libyschen Diktators Gaddhafi 2007 in den Bayerischen Hof einladen ließ.
Das zweite Mal, als er 2013 einen Polizeibeamten verteidigte, der auf dem Revier einer jungen, gefesselten Frau mit einem Faustschlag das Gesicht zertrümmert hatte. Und damit kurze Zeit später von Innenminister Joachim Herrmann zum Landespolizeipräsidenten befördert wurde.

Die Sicherheitsmaßstäbe der Zivilgesellschaft neu definieren

Noch einmal Polizei-Gewerkschafter Peter Schall:
"Der gute Stand beruht auch zum hohen Maße darauf, dass der Bürger sich drauf verlassen kann, wenn ich Hilfe brauche und ruf die Polizei, und dann ist innerhalb kürzester Zeit jemand da. Wenn Sie nur anschauen, in den Grenzbereichregionen zu Polen und der Tschechei, wo die Bürger inzwischen anfangen, Bürgerwehren zu gründen, hier hat schon eine Entfremdung stattgefunden, weil sich die Bürger sagen, ich fühl mich alleingelassen."
Vielleicht geht es um mehr als um Autoritätsverlust der Polizei, nämlich um eine totale Verunsicherung durch die neue Terrorgefahr. Es sei an der Zeit, meint der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, die Sicherheitsmaßstäbe der Zivilgesellschaft neu zu definieren. Letztendlich geht es um nichts Geringeres, als unsere Demokratie zu sichern:
"Die Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft der Polizei ist heute übergegangen in das Angebot zu beschützen, und zwar vor einem Feind zu beschützen, der als Feind der Gesellschaft deklariert wird: der IS-Terrorist, der uns vernichten will. Dazu brauchen wir einen starken Beschützer. Und die Risiken und Nebenwirkungen dieses Aspekts sind, dass der Beschützer sich verselbständigt und für seinen Schutz sehr viel Unterwerfung einfordert und sehr viel Macht. Das wäre das Ende der so genannten Bürgerpolizei oder der zivilgesellschaftlich legitimierten Polizei."
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