Kriminologe zu den Krawallen bei G20

"Die falsche Strategie zum falschen Zeitpunkt"

Das Bild zeigt einen Wasserwerfer in der Nacht von hinten, der gerade seitlich Wasser gegen einen Demonstranten verspritzt.
Zerstörte Straßenschilder und Mülleimer liegen nach den Krawallen zum G20-Gipfel im Hamburger Schanzenviertel. © Axel Heimken / dpa
Joachim Kersten im Gespräch mit Christine Watty · 10.07.2017
Im Kampf gegen die Gewalt beim G20-Gipfel in Hamburg habe die Polizei jeweils die falsche Strategie zur falschen Zeit angewandt, kritisiert der Kriminologe Joachim Kersten. Das habe dem Ruf der Polizei und der Stadt geschadet.
Bei der Beobachtung der gewalttätigen Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg habe man zwei klassische Strategien erkennen können, so der Soziologe und Kriminologe Joachim Kersten am Montag im Deutschlandfunk Kultur. Einerseits Deeskalation, andererseits Null-Toleranz, so Kersten, der Forschungsprofessor an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster ist. "Das Problem schien mir jetzt - aus der Ferne natürlich – dass immer die falsche Strategie zum falschen Zeitpunkt angewandt wurde. Das wirkte nicht besonders überzeugend," kritisierte der Forscher.

Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Angereisten und Einheimischen aus dem sogenannten schwarzen Block seien ein ganz diffuser Verein. "Die mögen Gewalt und die suchen Gelegenheit, diese auszuüben", so der Kriminologe. Aus seiner Sicht sei das in Hamburg nicht gut gelaufen, denn das habe man vorher gewusst. "Das ist nicht wie die AfD oder der Tierschutzverein, dass sie sich geordnet aufstellen."
Hier erkenne er einen Widerspruch zwischen dem Wunsch einer Stadt, Glanz und Glamour eines G20-Treffens zu haben und dann solche Straßenkrawalle nicht in den Griff zu bekommen. "Das ist ungünstig, das beschädigt den Ruf der Stadt, das beschädigt den Ruf der Polizei", so Kersten.
(uz)
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Das Interview im Wortlaut:

Christine Watty: Die Teilnehmer des G20-Gipfels werden die Tage in Hamburg sicher anders in Erinnerung behalten als Polizisten und Polizistinnen, Anwohner und Demonstranten und Demonstrantinnen: Auf Seiten der Politiker – nehme ich mal an – bleiben so Bilder im Kopf hängen wie viele Besprechungen, hier und da ein Hauch der Atmosphäre der Elbphilharmonie, dann und wann mal das Posieren vor der Kamera mit oder ohne Ehepartner. Draußen auf der Straße werden sich viele erinnern an Rauchschwaden, Gewalt, Wut und Zerstörung, Verletzte auf allen Seiten. So wirkt es zumindest, wenn man sich die Essenz des Ganzen betrachtet, und natürlich gab es auch sehr viele friedliche Proteste und besondere Formen, die in diesem Jahr in Hamburg zu erleben waren. Der Fokus aber, und das allein ist schon ziemlich ungerecht inmitten der Proteste für mehr Gerechtigkeit, verschiebt sich 2017 nach den Ereignissen in Hamburg auf den eher brutalen Teil des Wochenendes – und auch auf die Frage nach dem Einsatz der Polizei. Dazu begrüße ich Joachim Kersten. Er ist Forschungsprofessor mit EU-Projekten zu Polizei, sozialen Medien und Communities an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Schönen guten Morgen, Herr Kersten!
Joachim Kersten: Guten Morgen!
Christine Watty: Jetzt wird ja schon im Nachhinein viel über diese Polizeistrategie gesprochen. Der Einsatzleiter Dudde hat schon mitgeteilt, dass es natürlich eine Strategie gab, aber dass man dann am Ende wegen der Falle, die im Schanzenviertel aufgestellt worden sei, wo Polizisten beschossen worden sind, Molotowcocktails auf sie herunterregnen sollten, dann eben diesen Plan nicht vollziehen konnte und eben die Situation im Schanzenviertel, um die es vornehmlich geht, nicht beruhigen konnte. Was sagen Sie dazu, konnten Sie eine Strategie der Polizei erkennen, die an dieser Stelle nicht funktioniert hat?

"Diese Bilder verstören uns alle"

Kersten: Das konnte ja jeder erkennen, der die Aufnahmen gesehen hat auf den Sendern im Fernsehen und sich darüber informieren wollte, konnte man sehen, dass hier zwei klassische Strategien am Werke waren: Die eine ist Deeskalation und die andere Zero Tolerance, also null Toleranz gegenüber Übertretungen wie zum Beispiel Vermummung und so weiter. Das Problem schien mir jetzt, aus der Ferne natürlich, dass immer die falsche Strategie zum falschen Zeitpunkt angewandt wurde – das kann man so, glaube ich, von außen mal sagen. Es wirkte nicht besonders überzeugend. Ich würde gerne vielleicht mal was Grundsätzliches sagen, weil diese Bilder verstören uns ja alle, die wir da gesehen haben, und es ist jetzt schwierig zu sagen, wer ist schuld oder woran liegt das. Wenn man sich länger etwas über den Tellerrand hinaus mit Gewalt befasst hat – und das hab ich gemacht in meiner Arbeit, auch nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern –, muss man sagen, die meisten Menschen mögen eigentlich keine Gewalt, die finden Gewalt widerwärtig. Im Fernsehen gucken ja, aber selbst im Fernsehen so was wie Hamburg ist eklig und widerwärtig. Und der andere Punkt ist, dass Polizisten eigentlich auch keine Gewalt mögen, sondern trainiert werden, zumindest, sagen wir mal auch seit 40 Jahren bei uns in Deutschland, keine Gewalt anzuwenden, sondern Gewalt einzudämmen. Sie sind aber von unserem Rechtssystem her die Einzigen, die das dürfen, deswegen müssen sie das auch können. Diese Angereisten und Einheimischen aus dem sogenannten Schwarzen Block – das ist ja ein ganz diffuser Verein, das haben ja auch andere Wissenschaftler auch gesagt –, die mögen Gewalt und die suchen Gelegenheit, diese auszuüben. Und da schien mir, dass das in Hamburg nicht gut gelaufen ist, weil das wusste man vorher und das hätte man … Man kann die nicht … Das ist nicht wie die AfD oder der Tierschutzverein, dass sie sich geordnet aufstellen, das sind sehr diffuse, verschiedene Strömungen, ähnlich wie das am Ende der Studentenbewegung auch war in Deutschland. Ich kenne Polizeiführer …
Christine Watty: Aber Herr Kersten, lassen Sie mich …
Kersten: Einen Satz noch dazu …
Christine Watty: Ja, dann dürfen Sie noch Ihren Satz, dann aber ich.
Kersten: Der gehört noch zur Strategie. Ich kenne Polizeiführer und hab mir das berichten lassen, die sehr erfolgreich solche Situationen deeskalieren konnten, zum Beispiel sehr, sehr drohende schwere Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden in südwestdeutschen Städten. Die haben das geschafft, die haben sich hingestellt ohne Waffen, ohne … Das war hier nicht möglich, und ich glaube auch, dass diese Polizeiführer andere sind als diejenigen, die da in Hamburg am Werke waren.
Christine Watty: Also ich glaube, dass Polizisten auch keine Gewalt mögen, das ist an dieser Stelle klar geworden, und es gab tatsächlich auch Verletzte auf beiden Seiten. Wenn Sie aber so weit ausholen, dann muss ich trotzdem fragen: Es gab in diesem Moment offenbar, jetzt wird wiederholt, man habe damit nicht rechnen können. Es gibt aber zum Beispiel auch die Aussage von Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, der gestern bei Anne Will gesprochen hat und der vor allem auch darauf hinweist, dass offenbar auch einfach viel zu viel zu tun war. Also es gab einerseits ja auch die Aufgabe, die Politiker zu schützen, und andererseits aber auch dafür zu sorgen, dass es in der Stadt ruhig bleibt. Und er spricht ganz eindeutig davon, dass der Schutz der Politiker Priorität Nummer eins war, und das würde noch ein ganz anderes Problem der Strategie offenbaren.

Sympathieverluste auf beiden Seiten

Kersten: Ja, das sehe ich auch so. Ich sehe, dass hier ein Widerspruch ist zwischen dem Wunsch einer Stadt, Glanz und Glamour eines G20-Treffens zu haben und dann solche Straßenkrawalle nicht in den Griff zu bekommen. Das ist ungünstig, das beschädigt den Ruf der Stadt, das beschädigt den Ruf der Polizei, das ist eine schwierige Situation. Beide Seiten haben, glaube ich, einen hohen Sympathieverlust hinzunehmen – sowohl die Polizei als auch diese Vermummten und Schreienden und Zündelnden, mit der Bierflasche in der Hand, diese sogenannten Street Fighter. Beide stehen schlecht da, und das Ganze hat die Polizei irgendwie nicht gut im Griff gehabt, vielleicht trotz oder wegen 21.000 Beamtinnen und Beamten.
Christine Watty: Wie hätte man es denn, ganz kurz, wie hätte man es denn besser machen können, können Sie das auf den Punkt bringen?
Kersten: Das ist immer schwer für einen Wissenschaftler, wie hätte man es besser machen können. Im Nachhinein hassen die Polizisten auch, wenn man so was macht …
Christine Watty: Okay, aber vielleicht einen Punkt …
Kersten: Sagen wir mal so: In dieser Größenordnung, die da vorherrschte, man wusste, dass so viele kommen, man hat versucht, das einzudämmen und so weiter, das hat alles nicht so besonders gut funktioniert, ist es wahrscheinlich nicht möglich, beides gleichzeitig zu machen. Das ist ein Mantel, der ist zu groß für alle. Und dieser Widerspruch, den wir dann als Bürger sehen, zwischen diesem Glamour, speziell bei diesen auch zutiefst unsympathischen Politikern, die dann ihre Auftritte da haben und eigentlich Diktatoren sind und die zu Hause die Leute niederprügeln lassen, und dann sehen wir das Gleiche bei uns auf der Straße, das ist schwer zu verdauen. Was hätte man vorher anders machen können? Ja, wissen Sie, als Bürger, jetzt weniger als Wissenschaftler, dachte ich, man muss besser überlegen, ob man so was tatsächlich in so einer Stadt haben möchte.

"Hier prallen Feindbilder aufeinander"

Christine Watty: Okay, das ist …
Kersten: Das ist ein G20-Treffen. G20 in Cannes hab ich untersucht mit einer großen Gruppe von europäischen Wissenschaftlern zusammen. In Frankreich ist es halt anders gelaufen, aber Frankreich ist eine andere Gesellschaft als unsere. Bei uns ist die Polizei stärker eingebunden in demokratische Prozesse, bürgernäher. Und diese 21.000, die Zahl macht es nicht, sondern es geht darum, dass hier Feindbilder aufeinanderprallen und dass man keine Beziehungen zu der anderen Seite hat. Die Schwarzen nicht zur Polizei und die Polizei nicht zu diesen Menschen, die da hingehen. Das sind ja auch nicht alles nur Schwerkriminelle, aber es waren sehr viele Schwerkriminelle dabei.
Christine Watty: Also auf jeden Fall glaube ich ganz sicher, Sie haben jede Menge zu forschen an diesem G20-Gipfel in Hamburg.
Kersten: Ja, ich glaube, die Polizei hat mehr zu forschen.
Christine Watty: Ja, genau, aber aus der Wissenschaftlersicht oder der eines Forschungsprofessors gibt es, glaube ich, auch noch viel zu vergleichen und anzuschauen. Danke an Joachim Kersten, Forschungsprofessor von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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