Politologin Ayata

Auch die türkische Regierung hat geputscht

Türkei-Flagge weht im Wind auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
Die Türkei verändert sich (hier eine Flagge auf dem Taksim-Platz in Istanbul). © dpa/picture alliance/Lehtikuva/Anni Reenpää
Bilgin Ayata im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 20.07.2016
Die Maßnahmen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putsch wirkten selbst wie ein Staatsstreich, meint die Politologin Bilgin Ayata. Allein aus dem öffentlichen Dienst seien fast 50.000 Menschen suspendiert worden.
Nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin Bilgin Ayata sind die Maßnahmen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Militärputsch ihrerseits einem Staatsstreich vergleichbar.
Seit dem Putschversuch vom Freitag seien knapp 50.000 Menschen vom öffentlichen Dienst suspendiert worden: "Das ist eine unglaubliche Zahl." Gestern habe außerdem der türkische Hochschulrat die Dekane der Universitäten zum Rücktritt aufgefordert. "Und ich habe heute morgen auch gelesen, dass tatsächlich einige Dekane dieser Aufforderung nachgekommen sind und zurückgetreten sind." Ein Wandel der Regierung sei absehbar, denn die Maßnahmen zielten auf die gesamte Gesellschaft, warnt die Politikwissenschaftlerin, die als Professorin für politische Soziologie an der Universität Basel lehrt.

Im Land herrscht Furcht

Entsprechend ähnelten auch die Stille und die Erstarrung innerhalb der Gesellschaft der nach einem Putsch. "Man hört nichts von den Gewerkschaften, man hört nichts von zivilgesellschaftlichen Gruppen, denn die Angst vor weiteren Pogromen, die Angst vor der eisernen Hand des Staates ist im Augenblick sehr groß", so Ayata. "Das wird wahrscheinlich und hoffentlich nicht lange so bleiben, aber im Augenblick ist die Furcht jenseits derjenigen, die für Erdogan sind, zu groß, als dass jetzt noch eine große gesellschaftliche Opposition sich zeigt."
Dennoch äußert Ayata Zweifel, ob die Erstarkung der türkischen Regierung von Dauer sei. Denn die Türkei sei zahlreiche internationale Verpflichtungen eingegangen, nicht zuletzt als NATO-Partner. Und die internationalen Partner der Türkei würden sich "nicht ewig unbeteiligt anschauen, was derzeit innerhalb des Landes passiert".

Das Interview im Wortlaut (*):
Korbinian Frenzel: Der Putsch sollte die Dinge in der Türkei von Grund auf verändern, und jetzt ist es der, der den Putsch politisch überlebt hat, der den Moment nutzt, die Türkei weiter umzubauen. Recep Tayyip Erdogan, der Präsident, er will heute eine wichtige Entscheidung verkünden bei der ersten Kabinettssitzung nach dem Putschversuch, so hat er es angekündigt. Im Gespräch dazu und zu vielen anderen Fragen jetzt die Professorin für Politische Soziologie an der Universität Basel, Bilgin Ayata. Guten Morgen!
Bilgin Ayata: Guten Morgen!
Frenzel: Diese wichtige Entscheidung, die der Präsident angekündigt hat, was glauben Sie, wird das sein?
Ayata: Darüber wird jetzt schon seit gestern Abend spekuliert. In der Türkei, hinter den Kulissen werden alle möglichen Optionen besprochen. Die wichtigste ist vielleicht diejenige, dass das Gerücht im Umlauf ist, dass eventuell heute ein Ausnahmezustand über das ganze Land verhängt werden soll, dass das seine Ankündigung wird. Es werden auch weniger umfassende Maßnahmen besprochen, wie zum Beispiel die Veränderung der Ordnung des Militärs, dass eben noch weitere hochrangige Militärs noch mal abbestellt werden sollen und auch die Struktur, die politische Verantwortung für das Militär noch mal neu diskutiert wird. Es werden drastische Maßnahmen von einem Ausnahmezustand bis hin zu organisatorischem Umbau noch mal erwartet.

Erdogan wollte bereits 2012 die Todesstrafe wieder einführen

Frenzel: Nach den Debatten der letzten Tage könnte man bei dieser wichtigen Entscheidung auch an die Todesstrafe denken. Glauben Sie, dass die kommt?
Ayata: Es ist natürlich jetzt sehr schwer, eine Voraussage zu treffen, denn jegliche Entscheidungen, egal um was es genau geht, denn die Ereignisse überstürzen sich in so einer Schnelligkeit. Tatsächlich hat Erdogan bereits gesagt, dass, wenn das Parlament eine Wiedereinführung der Todesstrafe verabschiedet, würde er das auch unterzeichnen. Das heißt, die politischen Grundlagen sind jetzt mittlerweile schon dafür gegeben. Die Todesstrafe einzuführen, hatte Erdogan bereits 2012 einmal in Umlauf gebracht, wurde damals viel diskutiert, dann aber war es wieder weg vom Tisch. Das heißt also, ich würde jetzt nicht unbedingt sagen wollen, dass das jetzt unvermeidlich ist, dass das wieder eingeführt wird. Aber die Diskussion ist eröffnet, und es ist zu befürchten, dass es nicht nur eine politische Rhetorik bleibt.
Frenzel: Der Umbau der Türkei, den Sie angesprochen haben, der hinter all dem steckt, hinter den Bemühungen des Präsidenten – ist das etwas, was sich politisch noch steuern, verändern, aufhalten lässt? Gibt es eine Opposition dagegen in der Türkei?
Ayata: Im Augenblick ist es wirklich sehr ruhig oder ruhiggestellt, denn eine große Furcht existiert im Lande. Allein gestern zirkulierten die Zahlen, dass knapp 50.000 Menschen im öffentlichen Dienst suspendiert worden sind. Das ist eine unglaubliche Zahl, die eine der Maßnahmen ist, die seit Freitag getroffen worden sind. Das heißt, dass die Angst eine sehr große ist innerhalb der Bevölkerung. Gestern wurden ja auch, hat der türkische Hochschulrat die Dekane an den Universitäten aufgefordert, zurückzutreten. Und ich habe heute Morgen auch gelesen, dass tatsächlich einige Dekane dieser Aufforderung nachgekommen sind und zurückgetreten sind.
Das heißt, dass die Angst sehr groß ist und bis zu diesem Augenblick, es noch keine weitere Opposition gibt. Man hört nichts von den Gewerkschaften, man hört nichts von zivilgesellschaftlichen Gruppen, denn die Angst vor weiteren Pogromen, die Angst vor der eisernen Hand des Staates ist im Augenblick sehr groß. Das wird wahrscheinlich und hoffentlich nicht lange so bleiben, aber im Augenblick ist die Furcht jenseits derjenigen, die für Erdogan sind, zu groß, als dass jetzt noch eine große gesellschaftliche Opposition sich zeigt.

Stille und Erstarrung wie nach einem Putsch

Frenzel: Sie sagen, das wird nicht lange so bleiben oder hoffen es vielmehr. Aber was bedeutet all das, was wir da politisch erleben, für die Türkei, für die Entwicklung des Landes, intellektuell, für die Freiheit, für die demokratische Struktur des Landes?
Ayata: Die Atmosphäre des Landes ist in diesem Augenblick so, dass ein Putsch stattgefunden hat. Es wird ja immer von einem missglückten Putschversuch gesprochen, das ist richtig, wenn wir das so analysieren. Allerdings sind die Maßnahmen, die seitens der Regierung seither stattgefunden haben, kommen denen eines Putsches sehr ähnlich. Daher sind jetzt die Stille und die Erstarrung im Lande die eines Landes, wenn ein Militärputsch tatsächlich stattgefunden hat.
Nun ist ein Regimewandel, ein Wandel seitens des Regimes absehbar, denn die Maßnahmen, die bisher getroffen sind, beziehen sich auf die gesamte Gesellschaft, die in dem Augenblick keinerlei Möglichkeiten hat, sich kritisch gegen die Putschisten vom Freitag wie auch gegen die Regierung Erdogan überhaupt äußern zu können.
Frenzel: Werden diese Veränderungen die Türkei, das ist ja das rhetorische Ziel des Präsidenten, stärker machen, oder werden sie sie schwächer machen?
Ayata: Im Augenblick ist die Atmosphäre die einer sehr großen Erstarkung, aber wie ich schon zuvor gerade sagte, ich bezweifle, wie lange das aufrechterhaltbar ist. Denn die Türkei ist natürlich in vielen internationalen Bündnissen. Es wird ja derzeit noch sehr wenig zum Beispiel über das Flüchtlingsabkommen überhaupt diskutiert, das ist ja nur ein Aspekt, in dem die Türkei auch Verpflichtungen eingegangen ist. Die Türkei ist NATO-Partner. Es gibt einen Krieg gleich nebenan in Syrien, in dem die Türkei ja auch eine wichtige Rolle spielt. Das heißt, alle Entwicklungen, die wir derzeit beobachten, beziehen sich derzeit auf innenpolitische Fragen. Aber als außenpolitischer Partner werden auch die Partner nicht ewig unbeteiligt anschauen, was derzeit innerhalb des Landes passiert.
Frenzel: Der gescheiterte und der stattfindende Putsch in der Türkei, Folgen für das Land – im Interview dazu die Professorin für Politische Soziologie an der Universität Basel, Bilgin Ayata. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Ayata: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(*) Gegenüber der gesendeten Fassung wurden leichte sprachliche Glättungen hinsichtlich Satzbau und Grammatik vorgenommen.
Mehr zum Thema