Politische Handarbeitskunst

Kolumbiens Frauen erinnern an Verbrechen

Namenloses Grab in Kolumbien
Ein namenloses Grab in Kolumbien © picture alliance/dpa Fotografia / Guillermo Legaria
Von Olaf Nussbaum · 14.04.2017
Unbeirrbar kämpfen Frauen in Kolumbien für Gerechtigkeit. Sie sind direkte und indirekte Opfer des bewaffneten Konflikts. Im "Nähkasten der Erinnerung" haben sie sich zusammen getan, um sich dem Vergessen und der Straffreiheit der Täter zu widersetzen - mit Nadel und Faden.
Schnell ist der rote Stoff unter den zwölf Frauen im "Zentrum für Erinnerung, Frieden und Versöhnung" in Bogotá aufgeteilt. Lilia Yaya hält ihr Stück hoch.
"Wir legen uns den Stoff zu einem Rechteck zurecht. Und wir lassen oben fünf Zentimeter frei. Da schlagen wir den Stoff um und nähen ihn fest. Da kommt dann später ein Holzstab rein. Daran können wir den Stoff in den Ausstellungen aufhängen. Soweit alles klar?"
Seit 2012 gibt es den "Costurero de la Memoria", den "Nähkasten der Erinnerung". Die teilnehmenden Frauen sind direkte und indirekte Opfer des bewaffneten Konflikts: Einige von ihnen wurden vertrieben, die unschuldigen Familienangehörigen anderer ohne Gerichtsprozess hingerichtet. Die Täter sind meist noch frei. Auch der Mann, der 1989 Lilia Yayas Vater, einen Gewerkschaftsführer, ermordet hat.
"Dies ist ein politischer Raum des Widerstandes gegen das Vergessen und die Straffreiheit."

Eine Form der Kunsttherapie

Die Frauen thematisieren zuerst ihre eigenen Schicksale. Sie schneiden Menschen, Tiere und Pflanzen zurecht und nähen sie auf die Stoffleinwand. Auf einem Bild sieht man in einer Landschaft verstreute Leichen, auf einem anderen einen Bergfriedhof. Der "Nähkasten der Erinnerung" ist auch Kunsttherapie.
"Jede noch so kleine Naht treibt einem den Schmerz aus. Man vergisst den Schmerz nicht, aber er wird umgewandelt, verarbeitet. Das ist gewissermaßen eine neue Erzählform. Und die hat eine stärkere Wirkung. In dieser Erzählform wird auch geschrien, aber mittels Faden und Nadel."
Adonay Tique vom Indianerstamm der Pijaos hat ihr verlorenes Paradies in der Provinz Tolima genäht, ein Haus in einer trügerischen Idylle: Zuerst geriet Tiques Schwager unschuldig zwischen die Fronten von Guerilla-Kämpfern und Paramilitärs und wurde ermordet.
"Drei Tage nach der Beerdigung meines Schwagers haben wir schriftliche Morddrohungen bekommen: 'Haut ab! Oder ihr seid auch bald tot!' Am nächsten Tag bin ich früh aufgestanden und habe meine Hühner und Schweine verschenkt. Ich hatte Angst um meine vier Kinder und habe meiner Mutter gesagt: 'Wir gehen!' Zwei Jahre haben wir in Soacha bei Bogotá gelebt. Und dann kamen die Paramilitärs. Da wurden wir zum zweiten Mal vertrieben. Diese schrecklichen Vertreibungen haben eine unheilbare Wunde in mir erzeugt."

Viele Gräueltaten waren Staatsverbrechen

Dank des "Nähkastens der Erinnerung" kann sie überhaupt erst darüber sprechen und dank der hier erlernten Handarbeitsfähigkeiten ihre Nähbilder verkaufen. Die meisten Frauen können nur mit Mühe das Geld für das Busticket zum "Nähkasten" aufbringen. Aber der bedeutet ihnen viel und gibt ihnen die Kraft, auch dafür zu kämpfen, dass die Regierung endlich anerkennt, dass viele der Gräueltaten Staatsverbrechen waren. So wurden, von 2002 bis 2008 mit System, rund 3000 unschuldige Jugendliche und junge Männer von Militärs entführt, ermordet und als im Kampf getötete Rebellen deklariert. Die Soldaten erhielten für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit Beförderungen und Sonderurlaub. Straffrei geblieben ist der damalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos. Jetzt ist er Präsident und Friedensnobelpreisträger. María Doris Tejada kann es nicht fassen. Auch ihr Sohn wurde so ermordet. Sie weiß, dass die Macht der Paramilitärs und Militärs bis in die Justiz reicht.
"Der Fall meines Sohnes ruht gerade zusammen mit anderen Fällen. Die Angeklagten haben in den Anhörungen immer wieder darum gebeten, das Verfahren zu verschieben: weil sie selbst oder ihre Mütter angeblich krank sind oder weil ihr Nachbar Kopfschmerzen hat. Deshalb erscheinen sie einfach nicht vor Gericht. Das ist eine Farce."

"Die Täter sollten Angst haben und zittern"

Gerade hat eine Mitnäherin nach neun Jahren einen Prozess wegen ihres ermordeten Sohnes gewonnen. Militärs wurden mit langer Haft bestraft. Auch deshalb lässt sich Tejada nicht entmutigen oder von Morddrohungen einschüchtern. Oder hat sie vielleicht doch manchmal Angst?
"Angst? Nein. Die Täter sollten Angst haben und zittern."
Während Tejada das sagt, führt sie seelenruhig Nadel und Faden durch den Stoff. Mary Garcés hielt in den 80er Jahren als linke Studentin die Drohungen nicht mehr aus und ging ins Exil. Jetzt hat sie ein Herz gestickt:
"Gerade eben hat sich ein Faden verheddert. Da habe ich gedacht: In unserem Land war der Konflikt so ein Gewirr. Und ich habe gedacht: Ich muss jetzt diesen verworrenen Faden 'köpfen'‚ um wieder mit der Nadel 'zustechen' zu können. Wir benutzen hier beim Nähen ganz selbstverständlich brutale Kriegsbegriffe. Die sollten wir vielleicht doch lieber durch andere ersetzen. An all das habe ich gerade gedacht."
Der "Nähkasten der Erinnerung" dient eben auch der Selbstreflexion, vor allem aber der Trauma-Verarbeitung und der Anklage durch das Erzählen mit Nadel und Faden. Ihre Handarbeitskunst halten die Frauen vor Gerichtsgebäuden mahnend in die Höhe. Wer die Näherinnen dabei immer noch belächelt, der bekommt von Lilia Yaya ein unbeirrtes Lächeln zurück:
"Wir gehen unseren Weg, Schritt für Schritt, Naht für Naht."
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