Menschenrechtsverletzungen

Wie zieht man die Folterer zur Rechenschaft?

Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) posiert im Rahmen einer Pressekonferenz zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für Folter in Guantanamo am 27.06.2013 in Berlin.
Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights). © dpa/picture-alliance/Jörg Carstensen
Wolfgang Kaleck im Gespräch mit Burkhard Birke · 08.04.2017
Weltweit werden Menschen gefoltert, Regimekritiker verfolgt, misshandelt, ermordet. Der Eindruck: Die meisten der Folterer und Mörder kommen mit ihren Taten davon. Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck sagt, was getan werden muss, damit sich das ändert.
Deutschlandradio Kultur: Heute mit dem Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, European Center for Constitutional and Human Rights. Herzlich willkommen, Herr Kaleck, im Studio von Deutschlandradio.
Wolfgang Kaleck: Hallo, Herr Birke.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kaleck, ich möchte mit einer eher philosophischen Frage heute einsteigen. Was ist Gerechtigkeit für Sie?
Wolfgang Kaleck: Also, damit erwischen Sie mich gleich kalt. Nein. Gerechtigkeit ist vor allem, gegen Ungerechtigkeit sein. Also, ich glaube, Gerechtigkeit ist eine Zielvorstellung, an der wir uns unser ganzes Leben lang, also individuell und kollektiv, abarbeiten müssen. Und es ist halt der ständige Abbau von Ungerechtigkeit, und zwar Ungerechtigkeit überall.
Manche Menschen müssen mit sehr viel Gewalt leben. Viele Menschen werden ausgebeutet. Viele Menschen leben in Armut. Und die Differenzen in Einkommen, in Lebensbedingungen soweit wie möglich abzubauen, das heißt für mich Gerechtigkeit.
Deutschlandradio Kultur: Wo ist der Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit? Weil, Sie kämpfen ja mit dem Recht für mehr Gerechtigkeit.
Wolfgang Kaleck: Da ist oft ein Widerspruch. Also, wenn zum Beispiel das Eigentumsrecht in allen unseren Rechtsordnungen eine absolute Priorität genießt, während das Recht auf eine menschenwürdige Behausung, das Recht, ein menschenwürdiges Leben zu führen, immer nur in das budgetäre Ermessen der Regierung gestellt wird, dann stimmt da was nicht. Wenn also manche Rechte sozusagen in ihrer Absolutheit gewährt werden, während andere immer nur relativ zur Verteilungsmasse gewährt werden, dann stimmt das was nicht.
Deutschlandradio Kultur: Ein offensichtlich weitgehend rechtloser Raum ist momentan Syrien. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrecht hat jetzt unlängst Strafanzeige gegen hochrangige Angehörige des syrischen Geheimdienstes in Deutschland gestellt. Herr Kaleck, niemand bestreitet ja, dass Vertreter der syrischen Regierung unter Assad, und nicht nur die, in Syrien fürchterliche Menschenrechtsvergehen, Mord und Folter, begangen haben. Aber was außer Aufmerksamkeit können sie wirklich mit so einer Anzeige bewirken?

Zugänge zu Gerichten wurden geschaffen

Wolfgang Kaleck: Es ist klar, dass es ein Verbot zum Beispiel der Folter, aber eben auch eben von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit langem im internationalen Recht gibt. Es ist auch klar, dass es vielerorts dennoch verletzt wird.
Das Neue in den letzten zwanzig Jahren ist, dass tatsächlich Zugänge zu Gerichten geschaffen wurden. Da gibt’s zum einen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der durchaus für viele dieser Situationen zuständig ist. Er beschäftigt sich mit der Situation im Kongo oder im Sudan, wo in den letzten zwei Jahrzehnten fürchterliche Verbrechen passiert sind, aber er guckt sich auch Kolumbien oder aber die Folter der Briten im Irak an.
Für Syrien ist der Internationale Strafgerichtshof deswegen nicht zuständig, weil Syrien den Vertrag nicht unterzeichnet hat und der UN-Sicherheitsrat den Fall nicht nach Den Haag verwiesen hat. Daher besteht nur die Alternative: Warten bis in Syrien selber Gerichte wieder daran arbeiten oder aber in dritten Staaten Anzeigen und Verfahren in Gang bringen. Das ist sicherlich die drittbeste Alternative nach den Verhandlungen vor Ort und danach einem internationalen Bericht wie Den Haag, aber es ist eine Alternative.
Was die in Deutschland machen können? Die können anfangen Beweise zu sammeln. Und das werden sie auch bald tun. Das haben wir signalisiert bekommen. Das Verfahren wird hier in Deutschland sehr schnell in Gang gehen, ganz einfach deswegen, weil, wir wissen ja, die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die höchste deutsche Anwaltschaft, die hier zuständig ist, hat sich ja schon mit Syrien befasst. Die fangen nicht bei Null an. Wir haben denen jetzt einen bestimmten Sachverhalt zur Kenntnis gebracht.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie also konkrete Beweise vorlegen können?
Wolfgang Kaleck: Na ja, zum Teil haben wir halt Zeugenaussagen gesammelt von Menschen, die hier nach Deutschland geflohen sind, also Menschen, die vor der Gewalt in Syrien geflohen sind. Viele dieser Menschen haben am eigenen Leib Unrecht erlebt, sind gefoltert worden, sind sexuell missbraucht worden. Also, davon haben wir einige als Zeugen benannt. Wir haben uns einige Gefängnisse vorgenommen und haben uns dann vor allem halt auch die Befehlsketten angeschaut. Weil, es kann ja nicht sein, dass nur diejenigen vor Gericht gestellt werden, die dann zufällig mal hier auf der Straße, an der Grenze als Folterer erkannt werden, also, wenn sie denn auch nach Europa kommen.

Ein Informationspool muss aufgebaut werden

Deutschlandradio Kultur: Gibt es denn Hinweise darauf, dass einige der Täter hier in Europa mit dem Flüchtlingsstrom eingewandert sind?
Wolfgang Kaleck: Die gibt es sehr wenige, weil, die sind ja nun noch an der Macht und haben auch keinen Grund, sich hier nach Europa zu begeben. Aber was wir machen, hat eine Bedeutung unmittelbar für die Menschen, die sich an uns gewandt haben, also die Exil-Syrer, die Individuen, Anwälte, Journalisten, sehr engagiert, die Oppositionsgruppen, aber auch insgesamt die exil-syrische Community.
Einer von denen, der gefoltert wurde, hat zu uns gesagt: Für ihn ist das ein toller Tag, dass er als hierher Geflüchteter einen deutschen Staatsanwalt anrufen kann, damit der seinen Fall untersucht. – Das alleine hat eine große Bedeutung. Und das wird oft von den Zeitungskommentatoren unterschätzt.
Die schreiben nur: "Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Al-Baschir immer noch nicht vollstreckt. Internationale Strafjustiz gescheitert." – So kann man es auch sehen. Man kann aber auch die vielen kleinen Schritte benennen. Und zu den kleinen Schritten gehört noch mehr als die Zeugen, die angehört werden, die ihre Geschichte erzählen, die sehen, dass ihre Geschichte aufgearbeitet wird, mit anderen Geschichten verflochten werden. Dazu gehört auch, einen Informationspool aufzubauen, auf den dann deutsche, aber auch europäische Staatsanwälte zugreifen können.
Und dann, last but not least: Die Generäle des Assad-Regimes, die Geheimdienste führen, die wir für verantwortlich halten für die Foltergefängnisse, die reisen auch – vielleicht nicht nach Deutschland, aber vielleicht woanders hin. Und da kann man sie mit einem internationalen Haftbefehl sehr wohl festnehmen.
Deutschlandradio Kultur: Also, das heißt, Sie sind sehr zuversichtlich, dass es zu einem internationalen Haftbefehl in einigen Fällen kommen könnte? Oder ist es wirklich nur so, dass Sie vor allen Dingen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Problem lenken wollen nochmal?
Wolfgang Kaleck: Nein, nein. Die Aufmerksamkeit ist Sache von Organisationen wie Amnesty und Human Rights Watch und das machen die auch sehr gut. Also, Amnesty hat jetzt den Saydnaya Bericht, Gefängnis Saydnaya, veröffentlicht. Da müssen wir nicht nochmal nachlegen. Nein, habe ich schon mal gesagt: Uns geht’s da drum, dass Menschen, die von der Folter fast zerstört wurden, hier Zeugnis ablegen können.

"Es reicht nicht, wenn wir beide das hier besprechen"

Und das ist mehr als nur ein symbolischer Akt. Da geht es mehr als nur darum, mal einen Zeitungsbericht zu bekommen, sondern es geht halt darum, dass Staatsanwälte sich damit befassen, dass Staatsanwälte das rechtlich durchleuchten, feststellen, das ist passiert erstens, zweitens, das ist von den und den Menschen, der und der Organisation begangen worden. Und da gibt es Vorgesetzte. Die sind deswegen dafür verantwortlich, weil das systematisch begangen wurde. Also, das sind nicht einfach nur arbiträre Fakten, also mal ein Folterer, der über die Stränge geschlagen hat oder ein Exzess, eine Reaktion auf eine Demonstration. Nein. Das wird seit Jahrzehnten, spätestens aber seit dem Aufstand 2011 regelmäßig und systematisch durchgeführt. Und damit sind die Höchsten verantwortlich.
Und das muss ja irgendwann mal auch festgehalten werden. Es reicht nicht, wenn wir beide das hier besprechen, sondern das ist wichtig, dass die dafür zuständigen Staatsanwälte das festhalten. Wir denken in kleinen Schritten. Uns geht dieses US-amerikanische heute das, morgen das ein Stückweit ab. Sondern wir versuchen zu sagen: Okay, als erstes wollen wir, dass unsere Zeugen vernommen werden, dass die ihre Geschichten erzählen. Wir wollen, dass die aufgearbeitet werden. Als nächstes wollen wir, dass die Bundesanwälte sich mit den Tätergruppen befassen. Dann wollen wir natürlich, dass es auch irgendwann mal einen Antrag auf einen internationalen Haftbefehl gibt – und so weiter.
Ein Syrer mit Folterspuren auf dem Rücken.
Ein gefolterer Syrer.© AFP / James Lawler Duggan
Aber wir wollen, dass eine Dynamik in Gang kommt, die der entgegen gesetzt ist, die jetzt herrscht. Die jetzige Logik ist Straflosigkeit. Die Syrer schlagen sich die Köpfe ein und wir können nichts anderes machen, als abwarten bis das Land ausgeblutet ist. Und dann müssen wir kommen und Aufbauen helfen.
Und da wollen wir sagen: Nein. Ihr müsst zwar auch dafür sorgen, dass endlich dieser Konflikt beendet wird, das ist das A und O. Aber ihr könnt auch jetzt schon was tun.
Deutschlandradio Kultur: Welchen Zeithorizont geben Sie der Staatsanwaltschaft, bis es wirklich zu konkreten Maßnahmen kommen könnte – im Fall Syriens jetzt?
Wolfgang Kaleck: Also, wir sind jetzt sehr optimistisch, dass die Ermittlungen in den nächsten Wochen losgehen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben davon gesprochen, von Verantwortlichkeit, Straflosigkeit. Straflosigkeit ist ja vielleicht auch das Stichwort für das, was systematisch auf Guantanamo passiert und mit den Verantwortlichen in Guantanamo passiert ist. Sie selbst haben für viele Schlagzeilen damals gesorgt, als Sie Donald Rumsfeld, den damaligen US-Verteidigungsminister hier in Deutschland wegen der Folteraktionen und den Instruktionen zur systematischen Folter in diesem Gefangenenlager haben anklagen lassen. Die Anklage ist gescheitert. Wie frustrierend war das für Sie?

Niemand hat erwartet, dass systematisch gefoltert wurde

Wolfgang Kaleck: Na ja, wir haben es 2004 und 2006 versucht. Da war es schon noch ungewöhnlich für europäische Staatsanwaltschaften, sich solcher Sachverhalte anzunehmen. Also, da hat man gedacht, okay, wir haben den Internationalen Strafgerichtshof und da mag der eine oder andere aus dem Kongo landen. Und wenn einer von denen zufällig noch durch Deutschland kommt, dann werden wir den festnehmen und nach Den Haag ausliefern, so wie wir das auch mit den Jugoslawen gemacht haben. Jugoslawientribunal hat ja ein bisschen vorher angefangen zu arbeiten. Und so ähnlich stellen wir uns das Völkerstrafrecht in der Praxis in Deutschland vor.
Aber erstens mal hat natürlich niemand erwartet, dass so systematisch gefoltert wird durch einen, ja, den mächtigsten Alliierten, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika. Man hat vielleicht auch unbedingt erwartet, dass die Beweise über kurz oder lang so erdrückend sind, wie sie dann nachher wurden. Und dann war so ein gewisser Schreck auch bei den Strafverfolgungsbehörden. Was machen wir jetzt? Sorgen wir jetzt für politisches Chaos, indem wir irgendwie einen US-Verteidigungsminister oder seine Subalternen ermitteln? Oder schließen wir die Akte, wissend, dass das passiert ist, und auch wissend, dass die verantwortlich waren? – Das Zweitere haben wir getan.
Auch da wurde ja dieselbe Frage gestellt, die Sie gerade angerissen haben. War das nur, um Aufmerksamkeit zu erheischen? Dann sage ich Ihnen: Na ja, um Aufmerksamkeit zu erreichen, tackere ich ein paar Zeitungsartikel zusammen und bereite das feuilletonistisch auf und stecke nicht zwei Jahre Arbeit von etwa hundert Juristen irgendwie da rein.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie denn nochmal einen neuen Anlauf wagen? Ich meine, ihre französischen Kollegen haben ja gerade im Zusammenhang mit Häftlingen, die in Guantanamo gefoltert wurden, noch einmal einen Versuch gestartet, zumindest die damals Verantwortlichen in der Kommandostruktur, nämlich den Admiral Miller und den damaligen CIA-Chef George Tenet zur Rechenschaft zu ziehen. Und die Staatsanwaltschaft hat zumindest die Ermittlungen eröffnet.
Wolfgang Kaleck: Was glauben Sie, wer die Dossiers geschrieben hat, aufgrund derer die französischen Kollegen aktiv wurden? Das waren wir. Auch das gehört dazu. Es gehört langfristig zu denken. Wir haben 2004, 2006 was angestoßen. Und auch in der juristischen Community hat das einen Widerhall gefunden. Das heißt, wir sind mit den Franzosen, mit den Schweizern, mit den Belgiern, mit den Spaniern und noch mit anderen in Kontakt und suchen immer wieder nach Möglichkeiten, in diesen Ländern Verfahren zu führen.
So. Und dieser französische Fall ist deswegen ein sehr vielversprechender, weil es französische Staatsbürger betroffen hat. Das heißt, ich muss gar nicht, wie jetzt in unserem Fall Syrien, das sogenannte Weltrechtsprinzip bemühen, sondern es sind Leute betroffen worden, zu deren Schutz ich aktiv werden muss als französischer Staatsanwalt. Daher waren die Voraussetzungen sehr gut. Und wir hoffen, dass sich in Frankreich was bewegt.

Immer noch sitzen 41 Gefangene in Guantanamo

Wir haben aber auch in Deutschland nachgelegt und nochmal Bezug genommen auf die alten Strafanzeigen von 2004 und 2006 und haben nämlich nach dem Senatsfolterbericht im Dezember 2014 bis eben heute eine ganze Reihe von neuen Strafanzeigen erstattet. Und immerhin ist es ein Beobachtungsvorgang bei der Bundesanwaltschaft. Das heißt, sie schauen sich dies an. Beobachtungsvorgang, das mag für Sie nichts besonderes sein. Wenn man aber gewöhnt ist, dass in solchen Fällen durchaus eine sehr schnelle Ablehnung kommt, dann ist das schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir wollen allerdings jetzt, dass die tatsächlich in ernsthafte Ermittlungen einsteigen und zumindest das an Ermittlungen, sprich, an Zeugenvernehmungen, Sachverständigenvernehmungen durchführen, was ihnen auch von hier aus, von Deutschland, von Karlsruhe aus möglich ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kaleck, wie frustriert sind Sie eigentlich, dass Guantanamo immer noch existiert und immer noch 41 Gefangene dort einsitzen und nur ein Bruchteil dieser Gefangenen wirklich auch ein Verfahren bekommt? Das heißt, die anderen sitzen eigentlich unschuldigerweise immer noch da. Präsident Obama hatte ja versprochen Guantanamo aufzulösen.
Wolfgang Kaleck: Die Einrichtung des exterritorialen Gefangenenlagers Guantanamo auf kubanischem Territorium 2001, 2002 zum Jahreswechsel war ein Skandal. Dass dort Menschen über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte festgehalten wurden, ist ein Skandal. Dass sie dort gefoltert wurden, ist ein großes Verbrechen.
Obama hat wenigstens ein bisschen was dazu beigetragen, dass es weniger Gefangene wurden und hat immerhin das Prinzip Guantanamo infrage gestellt. Und das war nicht unwesentlich, weil das Prinzip Guantanamo hätten sich gerne auch ein paar andere abgeschaut, nämlich dass man irgendwo ein Territorium sich nimmt, alle missliebigen Elemente dort gefangen hält, ohne dass Anwälte, Gerichte, Journalisten und die Öffentlichkeit ein Auge drauf hat. Das ist jetzt zunächst einmal gescheitert. Das ist die gute Nachricht.

Eindringliches Beispiel: der Mauretanier Slahi

Die schlechte Nachricht ist, dass dort nach wie vor Menschenleben zerstört werden. In der Süddeutschen war dieser Tage ein sehr eindringlicher Artikel über den mauretanischen Ex-Häftling Slahi. Der hat da 15 Jahre gesessen. Der hat da 15 Jahre seines Lebens gesessen und ist rausgekommen. Und es hat nie ein Gericht darüber entschieden, ob er überhaupt irgendetwas gemacht hat. Also, das ist eine im wahrsten Sinn des Wortes kafkaeske Situation. Und das kann nicht sein.
Aber selbst bei denjenigen, die dort vor Gericht stehen, gibt es ja auch ein Riesenproblem. Also, wenn einer 150 Mal per Waterboarding gefoltert wurde, ja, was fange ich denn dann mit solchen Geständnissen an? Wir sind doch nicht im Mittelalter.
Deutschlandradio Kultur: Waterboarding ist ein wichtiges Stichwort, Herr Kaleck. Der Nachfolger von Barack Obama, nämlich Donald Trump, hat ja in einem Interview Ende Januar zu verstehen gegeben, dass er mit dieser Praxis, nämlich den Tod durch Ertrinken zu simulieren, durchaus sympathisiert, dass er sich vorstellen kann, das man solche Mittel einsetzt im Kampf gegen den Terror.
Haben Sie Befürchtungen, dass Trump jetzt Guantanamo wieder ausbaut und dass er auch die sogenannten Darksides, die versteckten Geheimgefängnisse der CIA, wiederbelebt?
Wolfgang Kaleck: Also, Trump ist zunächst einmal ein Ankündigungsweltmeister. Ich gucke mir erstmal an, was passiert ist. Und was passiert ist, ist, dass der heute wieder hoch gelobte Ex-Präsident Bush zugegeben hat, dass er hat foltern lassen, dass Rumsfeld es zugegeben hat, Cheney, der Vizepräsident. Und die laufen alle unbehelligt rum. Also, bevor ich die republikanischen Helden von vorgestern umarme, weil sie heute gegen Trump vorgehen, sage ich erstmal sachlich: Was ist passiert?
Und es wäre uns viel gedient, wenn wir uns all diese Typen mal genauer anschauen würden und sagen würden: Wer Foltern befohlen hat, wer daran teilgenommen hat, indem er Befehle gegeben hat, gehört vor Gericht gestellt. Und dann denkt vielleicht auch ein Donald Trump nicht laut darüber nach.
Das Problem liegt vorher. Das Problem liegt auch bei Obama, dass Obama zwar gesagt hat, wir wollen Guantanamo schließen, aber nicht gesagt hat, die, die diese Folter haben anordnen lassen, die sich das ersonnen haben dieses System, gehören vor Gericht gestellt, damit übermorgen nicht ein Trump kommen kann und sagt, wir machen es jetzt wieder.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben ja eben schon drüber gesprochen, in Frankreich läuft ja jetzt nochmal ein Verfahren. Also, Sie werden da nicht locker lassen, diese Menschen zur Verantwortung zu ziehen?
Wolfgang Kaleck: Also, wir sind ja mehrere. Wir sind unter anderem auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gewesen, der immerhin in mehreren Fällen, unter anderem Mazedonien und Polen, verurteilt hat, weil sie untergeordnete Rollen bei diesen US-amerikanischen Entführungsflügen der CIA gespielt haben. Da bewegt sich immer noch vieles. Und das Schöne ist ja: Eigentlich wollen wir alle, dass sofort eine Reaktion erfolgt. Uneigentlich haben wir auch eine Menge Zeit. Also, wie die Beispiele Argentinien und Chile zeigen, kann auch nach zwanzig, dreißig, vierzig Jahren noch ein Gerichtsverfahren erfolgen. Und das ist auch eine Botschaft, die wir vermitteln wollen.
Wir lassen nicht locker. Und wir lassen nicht locker, ja, das mag ich sein, aber das mögen auch meine jüngeren Kollegen sein. Das kann aber auch eine andere Organisation sein. Das kann Deutschland sein. Das kann Frankreich sein. Das kann aber auch in den USA stattfinden oder aber in dritten Ländern, über die wir noch gar nicht reden.
Deutschlandradio Kultur: Wolfgang Kaleck, wann haben Sie zuletzt mit Edward Snowden gesprochen oder ihn gesehen?
Wolfgang Kaleck: Wir sprechen eigentlich relativ regelmäßig. Wir haben dann doch immer wieder einiges zu bereden. Der NSA-Untersuchungsausschuss neigt sich dem Ende zu. Der Bundesgerichtshof hat jetzt gerade entschieden. Wir schauen immer wieder, was in anderen europäischen Ländern läuft, weil ich ihn ja insgesamt in europäischen Fragen berate. Das heißt, auch wenn er jetzt gerade einigermaßen, den Umständen entsprechend sicher in Russland lebt, hat man natürlich immer ein Auge offen, was tut sich wo und wo müsste man aktiv werden.

Wenn sich die Interessen beißen

Deutschlandradio Kultur: Zur Erläuterung nochmal für unsere Hörer: Sie vertreten auch anwaltlich Edward Snowden. Aus Sicht der Bundesrepublik: War es nun Feigheit, Kalkül oder diplomatische Besonnenheit, dass die Bundesregierung bisher Edward Snowden nicht als Zeugen vor den NSA-Untersuchungsausschuss gelassen oder geladen hat?
Wolfgang Kaleck: Ja natürlich diplomatische Besonnenheit! Was denken Sie denn? Nein, es war eine Mischung aus mangelndem Aufklärungswillen, weil die Aufklärung ja möglicherweise auch Praktiken umfasst, an denen man selber irgendwie partizipiert oder gerne partizipieren würde mittelfristig. Und natürlich diese außenpolitische Rücksichtnahme, die immer dann in Rede steht, wenn sich die Interessen der Bundesrepublik möglicherweise mit Interessen der USA beißen.
Es war vor allem aber sehr, sehr schlechtes Signal an diejenigen, an die jungen Menschen in der ganzen Welt, die man in Feiertagsreden ja immer zur Zivilcourage aufruft. Also, ich meine, wir erleben jetzt gerade eine Hausse des Rechtspopulismus. Und überall wird in Sonntagsreden zur Verteidigung von Demokratie und Bürger- und Menschenrechten aufgerufen. Und dann geht einmal ein junger Mann sehr stark in Vorleistung, riskiert sehr viel und wird dann auf diese Art und Weise ja im Grunde genommen in die Hände der Russen getrieben. Und dann zeigt man noch mit dem Finger auf ihn uns sagt: Du arbeitest mit den Russen zusammen. – Das ist an Lächerlichkeit und auch an Feigheit kaum zu überbieten.
Deutschlandradio Kultur: Nun, die Grenze zwischen dem, was die Amerikaner nun als Spionage bezeichnen würden, und einem Whistleblower, also jemand, der Missstände aufzeigt im Interesse der Öffentlichkeit, ist natürlich eine Grauzone. Ich glaube, da brauchen wir nicht drüber zu diskutieren.
Was könnte man denn generell tun, um diese Grauzone ein bisschen aufzuhellen und um Whistleblower besser zu schützen? Auch bei uns gibt’s ja Fälle, wo Menschen wirklich viel riskieren und nachher im Regen stehen gelassen werden.
Wolfgang Kaleck: Also, man sollte zum Beispiel in den USA, den Espionage-Act abschaffen, weil, nach dem diese Grauzone, die Sie gerade beschrieben haben, überhaupt nicht durchleuchtet werden kann. Dort hat jemand, der bestimmte Geheimnisse verrät, eine sehr hohe Strafe zu vergegenwärtigen. Dann kann er sich den Mund fusselig reden, warum er das gemacht hat, ob der Geheimnisse verraten hat, die möglicherweise besser nicht geheim sein wollten, weil sie Rechtsverstöße darstellen. Aber das alles wird ihm als Entschuldigung abgeschnitten.
Das heißt, man muss eine Abwägung treffen eben zwischen dem formalen Verrat eines Geheimnisses und dem, was damit erreicht werden soll. Und das obliegt einem Gericht oder einem Schiedsgericht oder oft betrifft es ja auch das Arbeitsrecht. Also, natürlich muss das abgewogen werden. Aber das kann natürlich nur dann erreicht werden, wenn man dem Whistleblower nicht vorher den Kopf abschlägt, sprich, wenn man ihn irgendwie in Isolationshaft steckt unter vollkommen missbräuchlichen Haftbedingungen wie den Chelsea Manning, heute die, auch ja auf kriegsverbrechensähnliche Tatsachen hingewiesen hat. Oder dass man einen Arbeitnehmer nicht vorschnell kündigt und rausschmeißt und möglicherweise auch noch mit verunglimpfenden Maßnahmen überzieht, sondern dass dann relativ schnell eine Aufklärung stattfindet: Ist das, was aufgedeckt wurde, tatsächlich aufklärenswert? Und hat der auch nach reinem Gewissen gehandelt oder hat er einfach nur was verkaufen wollen?
Deutschlandradio Kultur: Ihre Ausführungen zeigen ja, dass es sehr komplex ist, das zu definieren. Aber könnte man mit einem Gesetz in Europa das irgendwie halbwegs versuchen in Bahnen zu lenken?
Wolfgang Kaleck: Genau. Also, in Bahnen, das heißt, in rechtlichen Prozeduren muss sich das abspielen. Genau das findet im Moment halt nicht statt, sondern Whistleblower werden oft den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Sprich: Es ist nicht genau geregelt, dass jemand, der guten Gewissens Tatsachen, die auf rechtswidrige Zustände hinweisen, an der richtigen Stelle offenbar, nicht zu drastisch sanktioniert wird. – Nicht mehr und nicht weniger verlangen wir auch, wenn wir Schutz von Whistleblowern fordern.
Wir verlangen nicht, dass automatisch jeder, der nicht bekannte Tatsachen wem auch immer offenbart, einen Heiligenschein bekommt, weil er im Namen der Transparenz handelt. Nein, so dumm sind wir auch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Was ist uns denn an Informationen entgangen dadurch, dass wir den Whistleblower Edward Snowden nicht nach Deutschland eingeladen haben?
Wolfgang Kaleck: Na ja, er sollte ja als Zeuge vorm NSA-Untersuchungsausschuss aussagen. Und ich glaube schon, dass er als Person mit den Zugängen, die er hatte, mit den Kenntnissen, die er sich erworben hat, aber auch mit den Schlussfolgerungen, die er daraus ziehen kann, eine große Wirkung auch auf ein Gremium des Deutschen Bundestags entfaltet hätte.
Selbst wenn dieses Gremium zumindest in Teilen ignorant erscheint, ich bin mir relativ sicher, wenn er hier gewesen wäre, es wären mehr Leute davon überzeugt gewesen, dass er sich Gedanken gemacht hat, was da passiert, was da abläuft in der NSA, in der CIA, dass er sich bemüht hat, das auch an den richtigen Stellen vorzubringen, dass aber da überhaupt keine Offenheit dafür herrscht und dass er sich dann eben für diese Methode entschlossen hat.
Ich glaube, dieser Konflikt ist einigen zumindest heute noch nicht geläufig.

Unaufgeklärte Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien

Marina Bernal, deren geistig behinderter Sohn Fayr Leonardo (23, Foto im Hintergrund) von der kolumbianischen Armee ermordet wurde
Eine der Mütter der Ermordeten in Kolumbien, kämpft um Aufklärung über den Tod ihres Sohnes.© imago stock&people
Deutschlandradio Kultur: Herr Kaleck, lassen Sie uns noch in eine andere Gegend der Welt schauen – Lateinamerika. Kolumbien ist ja gerade im Begriff, ein Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla umzusetzen. Dabei wurde eine Übergangsjustiz vereinbart, die Maximalstrafen von acht Jahren für die schlimmsten Menschenrechtsverbrechen vorsieht, Menschenrechtsverbrechen durch die Guerilla, aber auch durch die Paramilitärs und durch die Sicherheitskräfte des Staates.
Sie selbst haben ja vor einigen Jahren wegen der sogenannten ‚falsos positivos‘ einen Prozess vorm Internationalen Strafgerichtshof angestrengt. Falsos positivos, das war der Fall: 4.000 Bauern wurden getötet, als Guerilleros verkleidet, um Prämien zu kassieren durch die Sicherheitskräfte. – Ist das jetzt überfällig geworden durch die Übergangsjustiz?
Wolfgang Kaleck: Nein. Die Übergangsjustiz ist für vieles in solchen Situationen Kompromiss. Zum einen muss man sagen, dass diese Höchststrafe nur für diejenigen gilt, die sich der Übergangsjustiz überhaupt unterwerfen. Nur diejenigen, die dort partizipieren, werden so behandelt. Aber wir wären ja froh, wenn überhaupt alles das, was in Kolumbien an drastischen Tatsachen in den letzten zwanzig, dreißig Jahren passiert ist, irgendwie irgendwo aufgeklärt wurde. Das ist ja mal der erste Schritt.
Und dazu sind natürlich diese Friedensverhandlungen schon geeignet gewesen. Und das ist jetzt nicht unbedingt das Verdienst der Farc oder der Regierung. Weder die einen, noch die anderen hatten ein gesteigertes Interesse daran, dass diese Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werden, sondern das ist der originäre Beitrag der Zivilgesellschaft an diesen Friedensverhandlungen gewesen. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir diese Zivilgesellschaft, die diesen Vorschlag von der Übergangsjustiz auch gemacht hat, darin bestärken.
Deswegen sind wir jetzt nicht so skeptisch, wie das manch internationaler Menschenrechtler ist, sondern wir gehen davon aus, wenn das denn so stattfindet, dann wird da so viel auf den Tisch kommen, dass die kolumbianische Gesellschaft noch eine Weile daran zu knapsen hat.
Deutschlandradio Kultur: Ist das auch eine Blaupause für andere Friedensprozesse?
Wolfgang Kaleck: Könnte, ja. Also, das ist ja ein Schritt weiter zum Beispiel als die südafrikanische Wahrheitskommission, die zwar immer als absolutes Erfolgsmodell verkauft wurde, wo aber die Opfer der Apartheid auch eine andere Meinung dazu haben. Weil, da war es nämlich so: Erstens mal haben die Verfahren eben vor Kommissionen stattgefunden und nicht vor Gerichten. Und da ist schon ein Unterschied. In einem Gerichtsverfahren hast du andere Mittel zur Verfügung, um die Wahrheit, wenigstens die prozessuale Wahrheit aufzuklären. Und zweitens ist der zweite Schritt in Südafrika nicht erfolgt, nämlich: Wer sich der Kommission nicht unterwirft, kommt vor ein normales Gericht und wird gegebenenfalls bestraft.
Da ist das kolumbianische Modell einen Schritt weiter. Ich sage es mal so: Wenn wir dieses Modell auf alle die Länder und Regionen anwenden würden, in denen in den letzten Jahren solche Menschheitsverbrechen passiert sind, dann wäre die Menschheit einen gehörigen Schritt weiter.
Deutschlandradio Kultur: Für Gerechtigkeit zu kämpfen oder die Macht mit Recht zu bekämpfen, ist ein gefährliches Unterfangen. Ihre Kollegen in Kolumbien bezahlen das tagtäglich mit dem Leben – auch in Mexiko und in vielen anderen Staaten der Welt.
Haben Sie denn manchmal auch das Gefühl, dass man Ihnen an den Kragen will?
Wolfgang Kaleck: Also, mein größtes Risiko ist, mit dem Fahrrad zu Ihnen hier ins Funkhaus zu kommen und vom Auto erfasst zu werden, wie es gerade einer Radfahrerin auf dem Weg passiert ist. Nein. Das Problem ist, dass wir als juristische Menschenrechtsorganisation, als Netzwerk juristischer Menschenrechtsorganisationen durchaus den einen oder anderen Erfolg in den letzten Dekaden hatten und dass darauf die Staaten jetzt reagieren und dass die Staaten die Leute angreifen, die verletzbar sind. Und das sind die Leute, die eben vor Ort Beweise sammeln, die vor Ort gegen dreckige Minen vorgehen oder die vor Ort ihr Land versuchen zu verteidigen.
Und wenn diese Leute umgebracht worden wären oder vertrieben wären, dann ist die juristische Arbeit in Bogotá und erst recht die juristische Arbeit in Berlin überflüssig geworden, weil wir keine Beweise sammeln können, weil genau die entscheidenden Leute im Grunde genommen durch Repression aus dem Spiel genommen werden. Dann gibt’s auch keinen Zugang zum Recht.
Deutschlandradio Kultur: Was waren denn die größten Erfolge Ihrer Arbeit in den letzten Jahren?
Wolfgang Kaleck: Wir als Netzwerk zehren immer noch sehr von dem Fall der Verhaftung von Augusto Pinochet, weil der etwas in Gang gebracht hat. Und wir hatten jetzt vor drei Wochen in Berlin die Anwälte aus dem Tschad Jaqueline Jacqueline Moudeina, Alternative Nobelpreisträger, und ihr Team hier, die es geschafft haben, dass letztes Jahr der Pinochet vom Tschad in Dakar im Senegal von einem afrikanischen Sondergerichtshof verurteilt wurde.
Da schließt sich so ein Bogen. Und das macht auch deutlich, dass diese Sachen manchmal eine Weile brauchen, bis sie wirken. Viele sind natürlich verzagt ob dessen, was da gerade passiert, aber es gibt eben auch solche Erfolgsgeschichten. Und dazu gehören im Übrigen auch das Ursprungsland Pinochets, Chile, wo eben mehrere hundert von seinen Schergen verurteilt wurden, und das Nachbarland Argentinien, wo über 500 ehemalige Militärs und Folterer verurteilt wurden. – Reicht nicht, kam zu spät, ist aber trotzdem ein wichtiger Schritt.

Wolfgang Kaleck, Jahrgang 1960, ist Fachanwallt für Strafrecht mit den Schwerpunkten europäischen und internationales Strafrecht sowie Menschenrechte. 2007 gründete er gemeinsam mit anderen Rechtsanwälten das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin Einer breiteren Öffentlichkeit ist Kaleck bekannt geworden, weil er den Whistleblower Edward Snowden anwaltlich vertritt.

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