Staatliche Ausgleichszahlungen

Politik, hier werden Sie geholfen

Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner tragen Maske und und stehen im Bundeskanzleramt
Der Staat wächst unaufhörlich, ein Pflaster hier, ein Ausgleich dort, und wer heute nicht gehört wird, hat gestern nicht laut genug geschrien, kommentiert Alexander Kissler. © picture alliance / photothek / Florian Gaertner
Ein Kommentar von Alexander Kissler · 13.04.2022
Ob bei Mietnebenkosten, Pendlerausgaben oder Lohndifferenzen - die Politik ist heute stets um Ausgleichszahlungen bemüht. Doch so verkommt die Republik zum stationären Treffpunkt abhängig Alimentierter, kritisiert der Journalist Alexander Kissler.
Unterbezirkskonferenzen sind kein Stoff, aus dem überregionale Nachrichten gemacht werden. Den Jungsozialisten aber gelang das Kunststück. Auf ihrer Unterbezirkskonferenz Anfang April forderten die Münchner Jusos die Vergesellschaftung von Supermärkten, um der steigenden Lebensmittelpreise Herr zu werden.

Die Republik schüttelte den Kopf. Sind das nicht Rezepte aus der sozialistischen Mottenkiste? Zumal von der Jugendorganisation einer Partei, die den Kanzler stellt? Die Jusos schoben hinterher, Enteignung und Vergesellschaftung seien das letzte Mittel, zuvor müssten die Supermärkte zu Genossenschaften werden, dann sehe man weiter.

Materielle Grundvoraussetzungen im Fokus

Tatsächlich steht nicht zu befürchten, dass Olaf Scholz einen Erlass unterzeichnet, mit dem die Läden und Discounter unter staatliche Aufsicht gestellt werden. Die soziale Marktwirtschaft muss zumindest diesen Angriff nicht befürchten. Wohl aber haben die Münchner Jusos ein Konzept auf die Spitze getrieben, das in jenen sozialdemokratischen Zeiten, in denen wir leben, ganz fraglos gilt. Dieses Konzept ist kein Sondergut der SPD, sondern politisches Allgemeingut der meisten Parteien, und es ruht auf zwei Säulen.

Die erste programmatische Säule ist die Überzeugung, dass gute Politik darin besteht, die materiellen Grundvoraussetzungen des Daseins zu verbessern. Was Marx und Engels ihr historischer Materialismus war, der Primat des materiellen vor dem geistigen Leben, ist heute die Sorge, es könne den Deutschen an Rapsöl oder Toilettenpapier mangeln.

Natürlich muss kluge Politik die Versorgungslage in den Blick nehmen. Natürlich müssen soziale Unruhen, Hungersnöte, Massenarbeitslosigkeit verhindert werden. Doch nicht zuletzt der Blick in die tapfer sich wehrende Ukraine zeigt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. So wie der Geist sich den Körper schafft, sind es Tugenden, Leidenschaften und Ideen, die darüber entscheiden, wer wir sind und was wir wollen. Dafür droht ein Zeitalter blind zu werden, das nur materielle Mangelerscheinungen kennt.

Politik als Reparaturbetrieb?

Womit wir bei der zweiten Säule des parteiübergreifenden sozialdemokratischen Konsenses wären: Politik ist demnach ein laufender Reparaturbetrieb politischer Entscheidungen, eine fortwährende Kompensation ad hoc festgestellter Defizite – und die Defizite enden nie.
Die Jusos fordern die Vergesellschaftung von Supermärkten in unmittelbarer Reaktion auf anziehende Preise und galoppierende Inflation. Ein Fehler im System wird festgestellt, eine betroffene Gruppe identifiziert, und sofort soll ein Systemwechsel ins Werk gesetzt werden. Alles Leben mag Problemlösen sein – alle Politik ist zur Kompensationskompetenz geworden.

Stete Kompensation

Um es mit einem abgewandelten Werbeslogan auszudrücken: Politik, hier werden Sie geholfen. Ob es sich um die Linderung handelt von Mietnebenkosten, Pendlerausgaben oder Lohndifferenzen: Da ist immer ein Apparat zur Stelle.

So zerfasert die Gesellschaft und wendet Politik sich gegen ihre Bedingungen. Die stete Kompensation für kleine, kleinste und weniger kleine Ungerechtigkeiten hält das Schwungrad der politischen Maßnahmen in abenteuerlicher Fahrt.
Der Staat wächst unaufhörlich, ein Pflaster hier, ein Ausgleich dort, und wer heute nicht gehört wird, hat gestern nicht laut genug geschrien. Politik wird zum Pausenhof der Unzufriedenen und eine Republik, die alle angeht, zum stationären Treffpunkt abhängig Alimentierter. Ein solcher kompensatorischer Materialismus verhindert, dass entsteht, was in harten Zeiten nottut: das Bewusstsein einer gemeinsamen Herausforderung.

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der „Neuen Zürcher Zeitung“ und Sachbuchautor. Von ihm erschien 2020 „Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife“.

Porträt von Alexander Kissler
© Antje Berghaeuser
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