Polen und die Flüchtlingsfrage

"Der Schock der Fernsehbilder wirkt wie 1989"

Porträt von Adam Krzeminski
Man kann eine unvorbereitete Gesellschaft nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen, so Krzeminski. © dpa / Bernd von Jutrczenka
Adam Krzeminski im Gespräch mit Nana Brink · 10.09.2015
Der polnische Publizist Adam Krzeminski hat Verständnis für die Haltung Polens zur Flüchtlingsfrage geäußert. Es brauche Zeit, sich zu öffnen, zumal Polen kein Einwanderungsland sei, sondern eher ein Auswanderungsland.
"Wir sind mitten in einer Völkerwanderung, und natürlich muss Europa handeln", sagte Krzeminski. Die Frage sei allerdings, nach welchen Modalitäten. In Polen sei ethnische Homogenität seit dem Zweiten Weltkrieg Teil des Selbstverständnisses geworden.
"Es braucht Zeit, sich zu öffnen, zumal Polen eben kein Einwanderungsland ist, sondern eher ein Auswanderungsland", so der Publizist. "Man kann auch eine nicht vorbereitete Gesellschaft nicht überstürzt zwingen, etwas zu tun, wozu sie überhaupt nicht geübt ist."
"Deutschland hat Erfahrung damit"
Auf die Frage, ob Deutschland dann die Last der Flüchtlinge allein tragen müsse, sagte Krzeminski: "Es ist keine deutsche Verpflichtung, aber Deutschland hat Erfahrung damit." Das Land habe seit den Displaced Persons der unmittelbaren Nachkriegszeit verschiedene Einwanderungswellen erlebt, außerdem eine jahrelange Debatte um die multikulturelle Gesellschaft. Das alles habe es in Polen nicht gegeben.
Allerdings rechnet Krzeminski damit, dass auch in die polnische Debatte jetzt Bewegung kommt:
"Der Schock der Fernsehbilder wirkt genauso wie 1989, damals die Fluchtwelle der Ostdeutschen über Ungarn."
Die Bischöfe hätten die Gemeinden aufgerufen, sich zu öffnen und jeweils eine Familie oder Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn man heute davon spreche, dass Polen 1000 bis 2000 Flüchtlinge aufnehme, dann sei das "sozusagen ein Pilotprojekt - in Anführungsstrichen - für die Öffnung der Gesellschaft".

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat das ja gestern deutlich gesagt, wir brauchen Solidarität in Europa, sonst können wir diese Flüchtlingskrise nicht bewältigen. Wer wüsste das nicht besser als Deutschland. Nur, nicht nur in Osteuropa sieht man das ja völlig anders, auch in Dänemark, dort wurden ja gestern Züge aus Deutschland gestoppt, weil man sich, so wörtlich, "von den Flüchtlingen überrannt fühlt". Mittlerweile sollen die Züge dann heute wieder fahren, aber trotzdem bleibt es ein Faktum, ausgerechnet an dem Tag, an dem der Kommissionspräsident die Einheit Europas beschwört hat. Wo soll das hinführen? Da braucht es schon einen wie Ivan Fischer, den Chefdirigenten des Berliner Konzerthauses, der eine Idee noch hochhält:
Ivan Fischer: Ich finde, Europa ist eine wunderschöne Idee, ein Kontinent, wo so viele Kriege und Konflikte waren, muss endlich mal eine Familie werden. Und das darf man nicht vergessen, und dazu gehört auch Gastfreundschaft und Toleranz. Und ich finde sehr schön, dass Europa Flüchtlinge aufnimmt. Dann fahre ich einmal mit einem kurdischen Taxifahrer oder ich kaufe Brot bei irgendeinem arabischen Laden – finde ich alles wunderbar farbig, und Toleranz und Verständnis zwischen Völkern wächst so.
Brink: Adam Krzeminski ist polnischer Publizist, Chefkommentator der polnischen Wochenzeitung Politika, beschäftigt sich schon sehr, sehr lange mit Europa, und jetzt ist er hier bei uns zugeschaltet in "Studio 9". Guten Morgen, Herr Krzeminski!
Adam Krzeminski: Guten Morgen, guten Morgen!
"Wir sind mitten in einer Völkerwanderung"
Brink: Sie haben gerade Ivan Fischer, den Chefdirigenten des Berliner Konzerthauses, gehört und seine Idee von Europa. Ist das nicht unendlich naiv in diesen Tagen?
Krzeminski: Ja, das ist ein bisschen blauäugig, weil es natürlich bunt und schön ist, aber wir kennen auch andere Bilder. Wir kennen die brennenden Asylheime, wir kennen die ethnischen Konflikte auf dem Balkan, wir kennen auch die europäische Geschichte, die gar nicht so friedlich und bunt gewesen ist. Ich denke gar nicht an den Zweiten Weltkrieg, sondern an die Zeit danach. Wir sind mitten in einer Völkerwanderung, und natürlich muss Europa solidarisch handeln. Die Frage ist, nach welchen Modalitäten.
Das, was in Dänemark passiert oder in Ungarn, das ist nicht nur der böse Wille, so wie ich das verstehe, der Ungarn oder der Dänen, sondern auch die Konsequenz der Widersprüchlichkeit der europäischen Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Denn es geht um die Registrierung in den Erstländern, es geht auch darum, dass verschiedene Mitgliedsstaaten verschiedene Möglichkeiten den Flüchtlingen anbieten. Das heißt, Polen ist kein beliebtes oder anvisiertes Ziel dieser Flüchtlingswellen, auch nicht Dänemark, sondern Schweden. Und man muss schon überlegen, wie man diese Solidarität ausübt und wie man auch diejenigen Länder darauf vorbereitet, die gar nicht das Ziel der Flüchtlinge sind und dennoch sich öffnen müssen, wie zum Beispiel Polen.
"Ethnische Homogenität ist Teil des modernen polnischen Selbstverständnisses"
Brink: Nun hat der Parlamentspräsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, gesagt, angesichts dessen, was Sie ja auch gerade geschildert haben, der Unterschiedlichkeit, der Nichteinigkeit in der Reaktion auf diese Krise, auf die Zuwanderung: Das Europa ist ein Europa der Egoisten. Wie kommen wir denn da raus, wenn wir diese Idee retten wollen?
Krzeminski: Ich verstehe schon, dass Politiker und auch Medien scharfe Worte benutzen, aber das stimmt auch nicht ganz.
Brink: Aber Moment, pardon, es reagiert doch jeder nach seinem eigenen Gusto, Sie haben es ja gerade beschrieben.
Krzeminski: Nicht nur. Nicht nur. Ich sehe das zum Beispiel bei uns in Polen. Polen ist ein seit dem Zweiten Weltkrieg ethnisch mehr oder weniger homogenes Land, unter traumatischen Umständen des Völkermordes und der ethnischen Säuberungen ist es entstanden. Diese ethnische Homogenität ist ein Teil des polnischen modernen Selbstverständnisses geworden, und es braucht Zeit, sich zu öffnen, zumal Polen eben kein Einwanderungsland ist, sondern ein Auswanderungsland. Es gibt zwei Millionen Polen, die aus Polen nach '89 ausgewandert sind, meistens auf die britischen Inseln, auch nach Deutschland. Und es hat noch keine Erfahrungen mit Einwanderung. Es gab nach dem Krieg Tausende von Griechen, die sind zurückgegangen nach '89, nach Griechenland. Es hat Erfahrungen mit Polen aus Kasachstan, die sind auch weitergegangen. Das heißt, es ist mit den Ukrainern, es gab eine Million Ukrainer als Wander-, als Gastarbeiter in Polen. Aber eine Erfahrung wie Deutschland, Frankreich, England, also die postkolonialen Metropolen, hat Polen nicht.
Und wenn man heute von diesen 1.000 bis 2.000 Personen spricht, ist das sozusagen ein "Pilotprojekt", in Anführungsstrichen, für die Öffnung der Gesellschaft. Wir haben jetzt einen Wahlkampf vor den Wahlen, Parlamentswahlen, am 25. Oktober. Das lähmt natürlich die Debatte, zumal die Nationalkonservativen im Aufwind sind. Dennoch haben die Bischöfe jetzt die Gemeinden aufgerufen, sich zu öffnen und jeweils eine Familie oder Flüchtling aufzunehmen. Das ist der Anfang. Der Schock der Fernsehbilder wirkt genauso wie in '89, damals die Fluchtwelle über Ungarn der Ostdeutschen, der DDR-Deutschen. Und ich rechne mit einer Beschleunigung dieser Debatte. Wir hatten drei Umfragen in diesen Tagen. Zwei sind für die Aufnahme, die Mehrheit, 51 und einmal sogar 61 Prozent für die Aufnahme.
Deutschland hat die Erfahrung mit Einwanderung, die Polen nicht hat
Brink: Herr Krzeminski, ich würde da gerne noch einhaken wollen. Es gibt sicherlich gute Gründe, was Sie beschreiben, auch völlig richtig. Nur die Frage ist doch, die Flüchtlinge kommen, das ist ein Faktum, und es wird nicht aufhören, sie werden mehr kommen. Deutschland wird seinen Teil tun, das ist ja klar geworden. Aber es wird auch klar sein, dass Deutschland das ja nicht alleine stemmen kann. Wo ist denn dann die Lösung, die Solidarität?
Krzeminski: Die Lösung ist, jetzt hat die Ministerpräsidentin diese Quote aufgestockt ein wenig, aber wie gesagt, man kann auch eine nicht vorbereitete Gesellschaft nicht überstürzt zwingen, etwas zu tun, wozu sie überhaupt nicht geübt ist.
Brink: Also muss Deutschland das tragen? Ist das die deutsche Verpflichtung dann, dies zu tun?
Krzeminski: Es ist keine deutsche Verpflichtung, aber Deutschland hat Erfahrung damit. Deutschland hatte zumindest in den 70er-Jahren eine tiefgreifende Debatte. Es hat eine Erfahrung mit den Gastarbeitern in den 60er-Jahren. Es hat Erfahrung mit den DPs [Displaced Persons] nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hat Erfahrungen mit verschiedenen Immigrationswellen nach '89. Und es hat eine Debatte, die lange gedauert hat, um die multikulturelle Gesellschaft, um die Änderung des staatsbürgerlichen Rechts, und, und, und. Das alles hat Polen noch nicht gehabt. Deswegen finde ich, diese 2.000 Personen, die nach Polen kommen werden, das ist ein Pilotprojekt einer Öffnung, die auch in Polen stattfinden wird, da bin ich mir sicher. Das zeigen auch alle Debatten, die jetzt anfangen.
Brink: Herzlich Dank, Adam Krzeminski, polnischer Publizist, Kommentator der Wochenzeitung "Polityka". Vielen Dank, Herr Krzeminski, dass Sie mit uns gesprochen haben hier in "Studio 9"!
Krzeminski: Vielen Dank, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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