Begriffe drücken Einstellungen aus
Sollen wir sie Flüchtlinge nennen oder Refugees? Asylbewerber oder Heimatvertriebene? Die Journalistin Sieglinde Geisel meint: Wir müssen kritisch prüfen, wie wir über die Menschen reden, die zu uns kommen.
Sprache ist ein Instrument der Politik, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Mit Worten deuten und ordnen wir die Welt: Wie wir die Menschen benennen, die nun nach Europa kommen – aus welchen Gründen auch immer – hat Einfluss darauf, wie wir sie behandeln.
Wenn von "Flüchtlingswelle", von Fluten und Strömen die Rede ist, ducken wir uns instinktiv. Menschen sehen wir dabei keine, denn die Worte haben sie in unserem Bewusstsein in reißende Wassermassen verwandelt. Wir bekommen Panik und sind bereit, alles zu tun, um diese bedrohliche (und wohl auch schmutzige) Flut draußen zu halten. Wer die Wassermetaphern benutzt, will damit genau das erreichen.
Je größer die Masse, desto geringer die Empathie
Wenn Menschen aus den Wörtern verbannt werden, die von ihnen handeln, hat das zur Folge, dass wir sie nicht mehr als Menschen wahrnehmen, sondern als Masse. Sobald wir jedoch Menschen als Masse wahrnehmen, reagieren wir paradox: Je größer die Zahl der Menschen, denen ein Unheil widerfährt, desto geringer ist unsere Bereitschaft zur Empathie mit ihrem Leid.
Je weniger Menschen wir dagegen leiden sehen, desto größer unser Mitleid. Nur im Einzelnen erkennen wir uns selbst – und unsere Kinder. Kein Bild hat so heftige und nachhaltige Gefühle geweckt wie das tote syrische Kind am Strand.
Die Meldungen von 100, 500, 700 ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer erschüttern uns dagegen kaum. Die Zahlen bewahren uns vor dem fremden Schmerz: Die Menschen hinter diesen Zahlen verflüchtigen sich zu einer Abstraktion, die nichts fühlt und denkt.
"Neuankömmlinge" aktiver als "Flüchtlinge"
Es hat Konsequenzen, ob und wie wir diejenigen, die zu uns kommen, in unseren Worten als Menschen anerkennen. "Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns 'Flüchtlinge' nennt", schreibt Hannah Arendt im Sommer 1943 in New York, knapp den Nationalsozialisten entronnen, in einem Text mit dem Titel "Wir Flüchtlinge".
"Wir selbst bezeichnen uns als 'Neuankömmlinge' oder als 'Einwanderer'," schreibt sie weiter. Ein Einwanderer hat eine Entscheidung gefällt, ein Flüchtling dagegen hatte keine Wahl. Er ist nicht handelndes Subjekt, sondern passives Opfer. Die Sprache setzt subtile Instrumente ein, wenn es um die Bewertung dessen geht, wovon die Rede ist.
Eine unscheinbare Wort-Endung kann abwerten, was mit dem Wort bezeichnet wird: Feigling, Weichling, Schönling – oder Asylant, Querulant, Simulant. Letztere gehen einem auf die Nerven, denn die Endung -lant bezeichnet etwas Aktives, durchaus Bedrohliches; die Endung -ling dagegen steht für etwas Passives, Schwaches, etwas, das wir verachten dürfen.
"Heimatvertriebene" politischer als "Refugees"
Es gibt noch einen anderen Grund dafür, dass niemand gerne "Flüchtling" genannt wird. Das Wort reduziert den Menschen auf seine Flucht: Ob es sich bei der geflüchteten Person um eine Ärztin handelt oder einen Maurer, ob sie Kinder hat oder von einer Karriere als Banker träumt, das alles interessiert uns nicht. Seit längerem schon sind Begriffe im Umlauf, die hier Abhilfe schaffen: "Geflüchtete" oder "Refugees".
Wer diese Worte benutzt, signalisiert Willkommensbereitschaft. Noch einen Schritt weiter gehen jene, die nun den Begriff "Heimatvertriebene" aus der Geschichte hervorholen. Hier geschieht weit mehr als eine bloße Umwidmung: Wir haben es mit einem hochpolitischen Deutungsakt zu tun.
Wer "Heimatvertriebene" sagt, spricht Menschen, die aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan zu uns kommen, den gleichen Status zu wie jenen zwölf Millionen Deutschen, die nach 1945 aus den ehemaligen Ostgebieten in den Westen geflohen sind. Damals, im kriegszerstörten Land, scheint man mit den Neuankömmlingen irgendwie zurechtgekommen zu sein.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ" in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).