Polen und Deutsche

Empathie kennt keine Grenzen

Die Grenze zwischen dem deutschen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Slubice.
Die Grenze zwischen dem deutschen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Slubice. © picture alliance / dpa
Von Beata Bielecka |
Deutsche und Polen erzählen einander ihre Lebensgeschichten aus der Region Frankfurt/Oder und Slubice. Die Erinnerungen sammeln sie in einem Archiv. Eine imponierende Bürgerinitiative, findet die polnische Journalistin Beata Bielecka.
Seit knapp 20 Jahren lebe ich in Slubice. Meine Arbeit an der deutsch-polnischen Grenze bringt es mit sich, dass ich häufig Situationen erlebe, in denen Deutsche und Polen sich nicht verstehen. Als Journalistin bemühe ich mich immer von Neuem, andere Menschen zu begreifen. Manchmal allerdings frage ich mich, ob die Nachbarn jenseits der Oder mein Verständnis wirklich verdienen.
Zwar habe ich kein Verständnis für den hysterischen Wirbel, den meine Landsleute um Erika Steinbachs Zentrums gegen Vertreibung machen. Ich meine, die Deutschen haben genau so viel Recht wie wir, sich der Tragödien des Krieges zu erinnern. Und Schicksale vermag ich mitzufühlen.
Aber ich teile durchaus Einwände gegen das Konzept des Projekts. Soweit geht mein Verständnis dann doch nicht. Das ist auch nicht nötig, denn über kritische Punkte, über völlig verschiedene Sichtweisen kann man reden − wie in der Familie, geradebiegen, was krumm erscheint, gegen Phrasen angehen, die aus Dummheit und Nationalismus geboren werden.
Doch derart aufeinander zuzugehen, dazu gehört Mut. Und diesen habe ich im "Archiv der Schicksale" gefunden. Es entstand vor zehn Jahren in Slubice und bewahrt Biografien auf. Sie sind voller Emotionen. Deutsche und Polen erzählen darin Geschichten, mit denen sie sich der Perspektive des jeweils anderen nähern.
Opfer gab es auf beiden Seiten
Krzysztof Wojciechowski von der Europa-Universität Viadrina hat dieses ganz andere Projekt initiiert. Und er hat mich überzeugt: wechselseitiges Berichten aus dem eigenen Leben berührt und regt zum Nachdenken an. Empathie kennt keine Grenzen, das habe ich beim Lesen verstanden.
Ich konnte mitfühlen! Konnte mich beispielsweise in das kleine deutsche Mädchen hineinversetzen, das bei Kriegsende miterleben musste, wie ihre Mutter den Freitod wählte, weil sie die Angst vor den Sowjets nicht ausgehalten hatte. Das Mädchen von damals ist heute eine alte Frau, die vom Trauma gefangen gehalten wird, der Mutter damals nicht geholfen zu haben.
Oder ich habe mit dem polnischen Mann aus Slubice gefühlt, der sein Blut für Kopfläuse gab, aus denen deutsche Mediziner einen Impfstoff gegen Typhus herstellten. Er tat dies für zwei Eier und ein Kotelett.
Opfer gab es auf beiden Seiten. Ich bin auch bei denen, die umgesiedelt wurden, die von Deutschen wie Polen oder anderen gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.
Eine der sehr beeindruckenden Erzählungen, die ich im "Archiv der Schicksale" gelesen habe, war die eines Juden aus Frankfurt/Oder. Er entschied sich in den 90er-Jahren, von Weißrussland nach Deutschland zu emigrieren. Der Mut hat gesiegt. Er wollte die Gegenwart mit der Vergangenheit konfrontieren.
Wenn sich Deutsche und Polen ihre Geschichten erzählen, erkennen sie, wie sehr sich ihre Schicksale ähneln und weinen manchmal dabei – das berührt mich immer wieder. Das Schreiben und das Lesen von Biografien können eine Katharsis sein. Jemanden kennenzulernen, verändert unsere Einstellung zu ihm.
Wenn wir einander zuhören und Erlebtes bereitwillig nachvollziehen, spielt Nationalismus keine Rolle.

Beata Bielecka ist Redakteurin der "Gazeta Lubuska", der größten regionalen Tageszeitung Polens an der deutsch-polnischen Grenze. Sie lebt und arbeitet in Slubice, von wo aus sie seit 20 Jahren über den Alltag im Grenzgebiet berichtet. Sie hat 1996 gemeinsam mit Dietrich Schröder (Märkische Oderzeitung) für eine Artikelreihe über Regelverstöße bei der Grenzpolizei den "Wächter-Preis der deutschen Tagespresse" verliehen bekommen.

Beata Bielecka, Redakteurin der "Gazeta Slubicka"
© privat
Mehr zum Thema