EU-Osterweiterung

Polnische Mythen - europäische Realitäten

Polen EU
Polen wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union © dpa / picture alliance / Stefan Sauer
Von Fritz von Klinggräff und Ronald Hirte · 30.04.2014
Vor zehn Jahren hing der europäische Himmel voller Geigen: Man feierte die EU-Osterweiterung. In der Realität begann für die neuen EU-Staaten ein steiniger Modernisierungsprozess – nicht zuletzt in Polen.
Wenn Europa seine Ränder verschiebt, gerät Polen in Bewegung.
Mit einem großen Feuerwerk über der Oder feierten die Menschen am 30. April 2004 die Osterweiterung der EU bis zur Ostgrenze Polens.
Außenminister Joschka Fischer am 30.4.2004 an der Oder: "Heute Abend entsteht das neue Europa, heute Abend entsteht ein Raum des Friedens, heute Abend entsteht etwas, was von beiden Seiten gewollt wurde, und deswegen möchte ich Euch zurufen: Lasst uns das jetzt gemeinsam hier feiern."
Nach den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sollte dies wohl auch der Eintritt Europas ins Zeitalter des Posthistoire sein. Der Kontinent sollte zur Ruhe kommen – am besten in seinen kulturellen Grenzen vom Nordatlantik bis zum Ural. Doch inzwischen wissen wir: Die Ruhe war trügerisch. Das Konfliktpotenzial an den Rändern der EU ist gewaltig, und im Innern droht Europa eine neue Instabilität durch politische Kräfte, die Europa dafür verantwortlich machen, dass sich im Zeitalter der Globalisierung die Lebensverhältnisse rasant verändern.
Polen ist das größte jener ostmitteleuropäischen Länder, die unter der Sowjetherrschaft gelitten hatten, deren Bevölkerung aber einen atemberaubenden Wandel der Lebensverhältnisse durchgemacht hat. Die Aufnahme in die EU hat den Wandel rasant beschleunigt, und so stellt sich zehn Jahre danach die Frage, wie das Land die Veränderungen verkraftet und verarbeitet hat.
Machen wir uns auf den Weg, die Europäisierung Polens zu erkunden – auf den Weg nach Warschau, nach Lublin, nach Zamość, unweit der ukrainischen Grenze. Nach Danzig, Gdańsk.
Das wichtigste Thema ist in diesen Tagen die Ukraine. Die russische Machtpolitik weckt in Polen zugleich tiefsitzende Ängste und ein solidarisches Mitgefühl mit den Ukrainern. Zehn Jahre lang hatte die polnische Gesellschaft eher mit dem Modernisierungsdruck zu kämpfen – mit einem Schlag stellen sich zum Jahrestag der EU-Osterweiterung aber ganz andere Fragen: Sicherheitsfragen. Polen, so der Historiker Włodzimierz Borodziej, schaue seit der russischen Besetzung der Krim vor allem auf seine europäischen NATO-Partner und frage sich ein wenig zweifelnd:
"Wollen die ein neues 'München' – erst mal auf Kosten der Krim und dann auf Kosten der anderen – oder nicht?" Westlich der Weichsel fühlt man sich etwas weniger bedroht. Aber östlich der Weichsel, wo man mal dazugehört hat, für über hundert Jahre, fühlt man sich durchaus bedroht und herausgefordert."
Konservative wollen einen polnischen Sonderweg
Polen zehn Jahre nach der Aufnahme in die EU: Das ist eigentlich eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Wirtschaftlich und sozial ist Polen zum EU-Vorzeigestaat einer gelungenen Integration geworden. Aber die Zumutungen der Modernisierung hatten auch zum konservativen Roll back geführt, bei dem die Kaczyński-Regierung gemeinsam mit ihrem Sprachrohr, dem erzkatholischen Radio Maryja, einen polnischen Sonderweg jenseits westeuropäischer Dekadenz und russischem Imperialismus beschreiten wollte. Bis heute wählt die Hälfte aller Polen sehr konservativ und geht in der östlichen Provinz nur widerstrebend den Weg einer europäischen Normalisierung mit.
Die Willkommensrhetorik von der "EU-Osterweiterung" hat zehn Jahre nach dem 30. April 2004 fast einen drohenden Klang. Nur gut, dass in dieser von hungrigen Imperien Jahrhunderte lang aufgeteilten Republik im heutigen Alltag die Lautsprecherdurchsagen am Warschauer Hauptbahnhof die erfreuliche europäische Normalität verkünden.
Der Berlin-Warszawa-Express fährt im zentralen Bahnhof Warschaus ein. Acht Mal ist er täglich zwischen den beiden europäischen Hauptstädten unterwegs. Noch nicht im ICE-Tempo – doch die Strecke ist überschaubar geworden. Pünktlich auf die Minute trifft der Zug in Warschau ein und mit ihm Adam Krzemiński, der Publizist und politische Handelsreisende in Europa. Krzemiński ist der große Optimist unter den deutschen und polnischen Leitartiklern:
"Von wegen Zerfall der europäischen Union! Es ist eine Entität, die keine effizienten Krisenmanagements-Normen in sich hat. Sie sind langsam. Aber sie funktionieren."
Europa existiert und Polen, so die Botschaft Krzemińskis, Polen gehört seit der Ukraine-Krise zu seinen Zukunftsmächten. Aber trifft Krzemińskis Optimismus auch die Stimmung in einem Land, das nach zehn Jahren EU-Zugehörigkeit politisch gespalten wie selten ist? Mit starken europafeindlichen Affekten? Und das erst jetzt, nach der Krim-Besetzung, im Sejm, also in einer der beiden Kammern des polnischen Parlaments, eine Mehrheit für den Euro zu finden scheint?
Adam Krzemiński
Adam Krzemiński© Deutschlandradio / Thomas Kujawinski
Nein, nicht alle denken wie Adam Krzemiński, der stete Polen-Erklärer in Deutschland, der Deutschland-Versteher in Polen. Unterwegs in Polen, auf der Suche nach europäischen Stimmen, werden diese schnell wieder Teil eines dissonanten Chorgesangs, in dem nationale Klänge die europäischen übertönen.
Um diese Klänge genauer zu hören, sollte man das weltstädtische Warschau verlassen. Denn hier sprechen selbst die Konservativen inzwischen gern mit Engelszungen. Wir machen uns also auf in eine der europäischsten Städte: ins UNESCO-Weltkulturerbe tief im Osten Polens an der galizischen Grenze – nach Zamość.
Andrzej Urbański: "Wir sehen die Stadt, wir sehen die Architektur und Zamość ist ein Beispiel von einer idealen Stadt. Warum? Weil man hier die Idee der Renaissancemeister praktisch umgesetzt hat, im Bereich der Architektur und der Urbanistik. Die Pläne sind entstanden, wurden auf dem Reißbrett entworfen bzw. in den Köpfen der Architektur- und Urbanistiktheoretiker. Es gab Versuche, diese Pläne in Italien umzusetzen. Vor allem Palma Nova. Aber das ist gescheitert. Jan Zamojski, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Padua studierte, brachte diese Ideen hierher, und hier hat er sie praktisch umgesetzt."
Andrzej Urbański, der Direktor des Muzeum Zamojskie, des kleinen Stadtmuseums von Zamość, hat einen leichten Hang zum Dozieren. Die Botschaft aber ist klar: Zamość ist Europas Double im Kleinen: Seine erste integrale Kopie und schöner als jedes Original. Hier ist der Fürst auch heute noch Fürst. Sein Familienname ist Zamoyski. Marcin Zamoyski ist der frei gewählte Oberbürgermeister des 65.000-Einwohnerstädtchens und sein Urahn, Jan Zamoyski, entwarf Zamość einst auf dem Reißbrett nach dem Vorbild Paduas. Eine Stadt wie aus einer Leonardo-Skizze: der Mensch ist ihr Vorbild und Abbild zugleich. Und so darf auch der ostpolnische Archäologe Urbański in seinem Stadtmuseum wie ein kleiner Fürst herrschen.
Einst also, erzählt uns der Museumsdirektor, kreuzten sich hier die wichtigsten Handelswege Europas: von Danzig zum Schwarzen Meer, von Kiew nach Spanien. Zamość war Europas Hort der Toleranz. Armenische Flüchtlinge aus dem Osten waren hier genauso zu Hause wie jüdische, deutsche, schottische aus dem Westen: politische, religiöse, Wirtschafts-Flüchtlinge. Ein gutes Beispiel für Europa, findet Andrzej Urbański. Eben das humanistische Europa im Kleinen. Spätestens seit 1945 aber liegt Zamość am Rande der Republik und seit 2004 unweit der Schengen-Grenze. Kurz hinter seinen trutzigen Stadtmauern enden die neuen europäischen Schnellstraßen und Trassen deshalb etwas abrupt vor der Ukraine; die europäische Kulturstadt selbst jedoch hat noch von der neuen Anbindung an den Westen profitiert. Die Wege von Warschau und Krakau sind deutlich kürzer geworden. Andrzej Urbański in seinem barocken Stadtmuseum begrüßt das. Europa, findet er, die EU muss für seine Mitgliedstaaten da sein. Europa ist, was Polen hilft. Doch die Gemeinsamkeiten sollte man nicht übertreiben:
"Gemeinsame Maßnahmen im Bereich der Finanzen, des Bankwesens und der Außenpolitik lassen sich nicht vermeiden. Denn dafür ist die EU gegründet worden: Es gilt, den freien Fluss von Kapital, Menschen und Ideen zu ermöglichen. Das ist wichtig und es hat Polen in den letzten zehn Jahren zu mehr Reichtum verholfen. Aber auch die EU konnte aus der Mitgliedschaft Polens ihren Nutzen ziehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sehr viele junge Menschen aus Polen ausgereist sind, die heute in Deutschland, in Großbritannien arbeiten und die dortige Wirtschaft unterstützen. Es waren sogar die am besten ausgebildeten jungen Leute, die unser Land verlassen haben. Es gibt hier also einen Prozess der Gegenseitigkeit. Aber gerade deswegen sollte man uns als jungen EU-Mitgliedsstaat nicht so stiefmütterlich behandeln, wie Angela Merkel es tut."
Immerhin kann dieser westgalizische Museumsdirektor als ein Repräsentant der konservativen 50 Prozent im politisch heillos gespaltenen Polen gelten. Und er hat mit seinem Haus im Weltkulturerbe eine gewisse Multiplikatoren-Funktion. Doch schon in seiner Wojewodschafts-Hauptstadt, in Lublin, ist die Stimmung anders als im verschlafenen Zamość.
Erinnerung an ein multikulturelles Galizien
Im Teatr NN in der Altstadt erforscht eine Geschichtswerkstatt, die zu Beginn der 1990er-Jahre aus der Mitte der Bürgergesellschaft entstanden ist, akribisch und mit europäischen Fördergeldern die jüdische Geschichte der Stadt. Mit dem einstigen Studententheater, das dieses Haus im 600-jährigen Stadttor Grodzka in den 1970er/80er Jahren war, hat das heutige Kulturzentrum kaum noch etwas zu tun, betont die Kunsthistorikerin Joanna Zętar:
"Heute ist das Theater nur noch ein kleiner Teil unseres Veranstaltungsprogramms. Alle Aufführungen, die wir hierher holen, haben etwas mit dem Werk von Isaac Bashevis Singer zu tun, dem jiddischsprachigen Schriftsteller. Mit seinen Geschichten wollen wir an die multikulturelle Lebenswelt Lublins und an die jüdischen Grundlagen unserer Kultur in der Region erinnern. Denn Singers Kurzgeschichten sind tief im Leben der jüdischen Gemeinschaft verwurzelt, die hier vor dem Zweiten Weltkrieg zu Hause war."
Joanna Zętar ist langjährige Mitarbeiterin des engagierten Projekts der Lubliner Zivilgesellschaft: Sie erzählt von der Erinnerungsarbeit an ein multikulturelles Europa, das einst hier in Galizien vorgelebt wurde. Der Hauptakteur des Teatr NN, Tomasz Pietrasiewicz, ist für genau solche Erinnerungsarbeit in den letzten zehn Jahren mehrfach von Antisemiten angegriffen worden. Und doch scheint es, als ob Aktivitäten wie die des Theatr NN oder zahlreiche Filme zur polnisch-jüdischen Vergangenheit eine neue und ziemlich breite Sensibilität für diese Geschichte geschaffen haben. Unweit des Zentrums, im Stadtpark, haben sich Aktivisten der Antifa-Szene eine kleine Villa zum randständigen Knotenpunkt ihres Internationalismus ausgebaut: Ein Internationalismus, der sich mit Blockaden gegen rechtsextreme Aufmärsche, mit solidarischen Aktionen für die Frontex-Opfer im Mittelmeer und mit ihrer Food-Kooperative im Haus kaum von den Alternativszenen in Weimar, Genf oder Barcelona unterscheidet. Europäische Zivilkultur der Gegenwart, sagt der Aktivist Michał Wolny:
"Wir wollen hier einfach was für die Leute in Lublin tun: Dinge, von denen wir denken, dass sie wichtig für uns alle sind. Aber um ehrlich zu sein: Wir sind eher eine kleine Gruppe von 20 Leuten, zu der noch mal ein Unterstützerkreis von vielleicht 100 weiteren Leuten gehört. Wir können Demonstrationen organisieren oder die Ökobauern in der Umgebung unterstützen. Wir können ein paar Aktionen machen: ‚Make food not bombs' oder mal ein Punkkonzert. Aber das war's dann eigentlich auch schon."
Bedrängt von Hooligans und Nationalisten lebt sich's nicht immer leicht in der ostpolnischen Alternativkultur; aber der Optimismus ist hier trotzdem erstaunlich groß. Aber der Optimimismus ist hier erstaunlich groß. In dieser seit den 1980er-Jahren gewachsenen Lubliner Szene ist auch der Theaterpädagoge Arek Ziętek groß geworden.
Mit Impro-Theater, Workshops und Übersetzungen zwischen Berlin, Warschau und Lublin schlägt er sich heute im neuen Polen durch. Ein Vierzigjähriger, der unter den europäischen Alternativen genauso zu Hause ist wie auf den großen europäischen Theaterbühnen. In Lublin wohnt seine Mutter; in Warschau und Berlin wohnen seine Freundinnen Justyna und Marie. Und er? Er ist, wo es Arbeit für ihn gibt. Wie für viele, denen wir in der polnischen Kulturszene begegnen, ist Europa nicht Thema, sondern längst Realität. Nicht immer einfach, häufig prekär; aber besser als vor der Öffnung der Grenzen.
Arek ist auch der erste, der uns auf Krzysztof Warlikowski und sein Nowy Teatr aufmerksam macht. Der polnische Theaterregisseur, der in Paris zu europäischer Berühmtheit gelangte und für die Berliner Stadttheater-Landschaft nur ein müdes Lächeln übrig hat, sorgt in Polen mit seiner „(A)pollonia"-Inszenierung auch noch im sechsten Jahr nach der Premiere für Diskussionen. Mit großem Aufwand dekonstruiert Warlikowski über fünf Stunden das traditionelle polnische Selbstverständnis: das über Jahrhunderte gewachsene Gefühl, Opfer der europäischen Geschichte zu sein. „(A)pollonia"; das ist die polnische Version der Iphigenie. Doch auf der Bühne Warlikowskis wendet sich der humanistische Opfermythos gegen sich selbst: No sacrifices any more, so lautet die Botschaft. Mit nationalen Mythen hat Warlikowski nichts am Hut. Aber auch die EU-Bürokratie ist für den Regisseur höchstens noch Stoff für eine bittere Farce:
"Ich traf diese Leute in Brüssel und nahm an deren merkwürdigen work-in-progress-Zeug teil. Das sind Leute, die nichts mehr sind. Der eine spricht griechisch, der andere portugiesisch..., aber sie verstehen einander längst nicht mehr. Ein großes Illusionstheater. Marionetten! Ich habe an einem einzigen dieser so genannten Arbeitsessen teilgenommen. Wir saßen an einem Tisch vor unseren Tellern. Hinter uns in Kabinen saßen die Dolmetscher vor ihren Tellern. Wir aßen hier, sie aßen dort. Und in dieser absurden Inszenierung versuchte Barroso zu den verschiedenen Nationen der EU zu sprechen. Das Ganze war von einem merkwürdigen Alarmismus geprägt, der eigentlich nur eins meinte, nämlich „Rettet meinen Arsch!" Wir kommen aus dem alten Europa, wir machen hier was ganz Großes und jetzt retten wir unseren eigenen Arsch."
Im Zug von Warschau gen Westen und zurück von Europa nach Warschau gibt es für Leute wie den Theatermacher Krzysztof Warlikowski kein Halten mehr. Europa ist ihm nicht mehr wirklich der Rede wert. Er lebt es. Manche machen das täglich, wöchentlich, monatlich. Leute wie Arek Ziętek, der Theaterpädagoge aus Lublin, den wir auch in Warschau wieder treffen. Ein Kulturleben - nicht zwischen den Welten, sondern in einer europäischen Welt. Das geht nicht allen so.
In Radom, abends um elf, plaudern wir beim Bier in der "Scandal Shot Bar" mit zwei jungen Frauen, Schwestern, etwa Ende 20. Die eine studierte Betriebswirtin, die andere diplomierte Bauingenieurin. Die Verständigung mit ihnen ist problemlos: Im Gegensatz zu uns sprechen sie fließend polnisch, deutsch, russisch und englisch. Sie leben von Gelegenheitsjobs und halten in Radom damit auch noch den Vater über Wasser. Die Mutter ist vor Jahren mit dem neuen Freund nach München ausgewandert. Dort arbeitet sie als Putzfrau. Ihre Töchter besuchen sie hin und wieder. Die Augen leuchten bei ihren Erzählungen: Die Mutter, das ist das Zukunftsmodell.
Auf dem Bild sind Hochhäuser im Zentrum der polnischen Hauptstadt Warschau zu sehen, aufgenommen am 13.10.2010.
Hochhäuser im Zentrum von Warschau© picture-alliance / PAP / Pawe³ Brzeziñski
In Warschau, in der Hauptstadt, ist der Stolz auf Polen größer. Gerade bei der ältesten Generation, die hier noch im Bewusstsein einer Befreiung aus 200 Jahren polnischer Teilung aufwuchs. Natürlich sei Polen Europa, sagt die 85-jährige Lucyna Tych:
"Wenn ich sage, ich bin Polin, bin ich Europäerin. Polen ist sehr mit Europa verbunden und Europa ist sehr wichtig. Da ich aber enorme Leidenschaft für das englische Theater und die englische Literatur habe und mein Sohn dort lebt, bekomme ich von ihm alle Neuheiten und alles, was interessant ist, aber das englische Theater hat mich von jeher fasziniert."
Lucyna Tych sitzt in einem Café an der Ulica Marszałkowska, im Warschauer Wohnviertel "MDM". Wenn die alte Dame, Tochter des kommunistischen Politikers Jakub Berman, von Warschau spricht, dann ist dabei von einem Europa die Rede, das nicht nur den Westen und Shakespeare meint. Die Marszałkowska zwischen dem Kulturpalast und dem Hotel MDM am Platz der Verfassung ist ihr Warschau.
"MDM ist ein Platz, der in mir viel Freude und Enthusiasmus weckte, als er 1952 erbaut wurde. Denn hier gab es nur Ruinen. Und plötzlich entstand hier etwas, was zwar stark an Moskauer Bauten erinnert, aber es waren immerhin Bauten und die Menschen konnten hier wohnen. Stadtplanerisch hat dieser Platz seinen Charme und seinen Charakter. Seine Homogenität schafft eine Atmosphäre, die ich mag, vielleicht auch, weil ich diese Stadt insgesamt sehr liebe. Oder vielleicht deshalb, weil hier eine solche Harmonie herrscht: zwar einerseits so wie in Moskau, also klassizistisch, aber gleichzeitig auch harmonisch.
Ich glaube, in Warschau, unter den alten Warschauern, gibt es die Besonderheit, immer gern Orte und Gebäude aufzusuchen, die wieder aufgebaut wurden. Als die zerstörte Altstadt rekonstruiert wurde, wurde sie von großen Menschenmassen besucht, alle mit Tränen in den Augen. Da wir die Stadt als absolute Ruine gesehen haben, lieben wir auch das, was uns nicht unbedingt begeistert."
Es ist für den Blick von außen nicht immer einfach, diesen Generalplan für die polnische Hauptstadt zu entdecken. Rund um Warschaus Kulturpalast von alter stalinistischer Prächtigkeit, dem "Geschenk des sowjetischen an das polnische Volk", überragen inzwischen die postmodernen Türme der Globalisierung das einstmals höchste Gebäude Europas, das vor 50 Jahren noch ziemlich einsam aus den Ruinen der Nachkriegszeit stach. Nach dem Warschauer Aufstand 1944 hatten deutsche Besatzungstruppen Warschau fast komplett zerstört.
Nein, eine Reise nach Polen kommt auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht an den Verbrechen der Nazis vorbei, selbst wenn dies in einer Zeit, in der die junge Generation ihr Europa längst mit Rollkoffer und Projektförderung lebt, wie ein historischer Antagonismus klingt. Zwischen den Baukränen aber hat sich – nur wenige Minuten von der Marszałkowska entfernt – auch das "Museum des Warschauer Aufstands" angesiedelt. Im Jahr des EU-Anschlusses 2004 war dieses Museum der nationalen Erinnerung eröffnet worden. Und es ist längst das meistbesuchte Museum des Landes:
Mit seinem multimedialen Kanonendonner zieht das geschichtspolitische Renommierprojekt der ehemaligen konservativen Kaczyński-Regierung gerade die junge Generation Polens in seinen Bann. Schülerklassen aus der ganzen Republik pilgern heute in ihr Nationalmuseum. Hier wird ihnen die Ursprungsgeschichte eines wieder auferstandenen Volkes erzählt, das im größten europäischen Aufstand gegen die Nazis nicht nur die Besatzer aus dem Westen im Blick hatte, so betont der stellvertretende Direktor Paweł Ukielski:
"Der Warschauer Aufstand von 1944 war die Krönung der fünfjährigen Geschichte des polnischen Untergrundstaates während der Besetzung: Als Revolte einer ganzen Stadt gegen die Nazis war er europaweit ein einmaliges Phänomen. Der polnische Untergrundstaat, der unter extrem schwierigen Bedingungen aufgebaut wurde, war in sich vollständig ausdifferenziert und war zugleich der legale Arm der polnischen Exilregierung. Dieser Untergrundstaat bedeutete nichts weniger als die Kontinuität Polens unter seiner Besetzung: eine Kontinuität, in der sich Polens Souveränität vor 1939 mit der Freiheitsbewegung von 1944 verband. Es war uns deshalb sehr wichtig, mit diesem Museum auch die staatsstiftende Funktion des Warschauer Aufstands bis heute in Erinnerung zu rufen, denn zu kommunistischen Zeiten durfte man diesen Aspekt überhaupt nicht beleuchten. Wir waren hier zum letzten Mal vor 1989 frei! Wir wollen zeigen, dass der Untergrundstaat ein äußerst demokratischer Staat war und dass die Werte, für die die Aufständischen kämpften, keine nationalen, sondern universelle Werte waren."
An Geschichtspolitik also kommt man in Polen nicht vorbei, wenn man nach seiner europäischen Zukunft fragt. Gerade nicht in diesem politisch so säuberlich zweigeteilten Land. Und so wurden auch die Diskussionen um die eigene Vergangenheit in den letzten zehn Jahren mit großer Vehemenz geführt: über die Volksrepublik Polen als "Unrechtsregime", über die "Vertreibung" der Deutschen nach 1945, über die polnisch-ukrainischen Beziehungen oder die Schuldfrage im polnisch-jüdischen Verhältnis. Und nicht alle Historiker in Polen sind mit der national-konservativen Geschichtsdidaktik im Museum des Warschauer Aufstands einverstanden.
Włodzimierz Borodziej: "Die Kernidee ist ja, dass man konservative Werte mit modernen Mitteln präsentiert. Die haben natürlich herumgeschaut: In Yad Vashem, Washington, Holocaust Memorial und so weiter. Was da zum Ausdruck kommen soll, ist die Idee des Opfers: Die Gemeinschaft kann von dir fordern, dass du Opfer bringst. Und du bist dazu verpflichtet. Das ist die Message."
Mit dieser Kritik hat sich der Warschauer Historiker Włodzimierz Borodziej in Polen nicht nur Freunde gemacht. Auch die liberale Tusk-Regierung scheut nichts mehr als einen Historikerstreit mit der konservativen Opposition. Also hat sie sich mit ihren eigenen Museumsprojekten aus Warschau verabschiedet und in den Norden des Landes zurückgezogen. Genauer: Nach Danzig, Gdańsk, an die Ostsee. Hier entstehen in diesem europäischen Jubiläumsjahr nun gleich zwei neue Erinnerungsorte: Ein "Museum des Zweiten Weltkrieges" als liberaler Gegenentwurf zum national-konservativen Museum des Warschauer Aufstands. Sowie das Europäische Solidarność-Zentrum.
"Die Zivilgesellschaft hat viel Freiraum"
Begeben wir uns zum Schluss unserer Reise durch Polen zehn Jahre nach seinem EU-Beitritt also in den Norden des Landes. In eine Region, die sich abgekoppelt fühlt von der europäischen Entwicklung. Die Ostsee-Autobahn, die Stralsund mit Hamburg verbindet, wird in absehbarer Zeit nicht gen Baltikum weiter geführt. Da, wo 1980 alles angefangen hat mit dem neuen Europa, auf der einstigen Leninwerft, soll dies nun mit dem Europäischen Solidarność-Zentrum Basil Kerskis, des agilen Politologen irakisch-polnischer Herkunft, nachgeholt werden. Selbstbewusst entwirft der Chefredakteur des deutsch-polnischen think tanks, des Vierteljahresmagazins "Dialog", seine Vision eines europäischen, zivilgesellschaftlich intakten Polen, das er gerade entstehen sieht:
"Sie haben in Polen genug Bürgertum heute, wo Menschen sagen können, wir als Christen, als Menschen gründen NGOs, e.V.'s, Stiftungen, die Waisenkindern helfen und jungen Leuten Bildungschancen eröffnen. All das ist, glaube ich, ein natürliches Phänomen einer Gesellschaft wie Polen, als ein großes Land, es gibt regionale Unterschiede – die Zivilgesellschaft hat viel Freiraum da."
Vor allem aber, findet Basil Kerski, müsse man sich von der Vorstellung verabschieden, dass Polen in den vergangenen zehn Jahren der Ost-Erweiterung nun in den transatlantischen Westen eingezogen sei. Nein: Europa bleibe unterwegs und die Akteure seien nicht nur unter den politischen Strippenziehern im Westen zu finden. Die alte Idee vom osteuropäischen Transformationsprozess und der Eingliederung Ostmitteleuropas in den Westen, betont der Chef des künftigen Solidarność-Zentrums in Danzig, sei soziologisch nämlich längst obsolet:
"Diese Transformation war ja von Anfang an eine sehr schwierige, war eben keine 'nachholende Modernisierung'. Das war die falsche These von Habermas, die Vorstellung: Wir kopieren jetzt die Wohlstandsgründung in Frankreich und Deutschland und das ist nur eine Frage der Zeit. Was man dabei vergessen hat, wir alle: 1989 fällt auf den Tag genau zusammen mit dem Beginn der Globalisierung, nämlich – ich habe das gerade nochmal recherchiert – mit dem Beginn des world wide web."
Polen sei Teil des allgemeinen Globalisierungsprozesses. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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