Poesiekünstler Kenneth Goldsmith

Das Credo des unkreativen Schreibens

Der konzeptionelle Poesiekünstler Kenneth Goldsmith beim Colloquium "Die Zukunft der Dichtung" beim 16. Poesiefestival in Berlin.
Der konzeptionelle Poesiekünstler Kenneth Goldsmith © imago/Mike Schmidt
Von Tobias Wenzel · 22.05.2017
Copy and Paste? Super Sache, findet der Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith. In Zeiten des Internets sei es sogar Pflicht, den Massen von Texten nicht noch neue hinzuzufügen, sondern alte neu zusammenzusetzen. Wie das geht, hat er jetzt in Berlin dargelegt.
Kenneth Goldsmith wirkt wie ein kurioser Dandy, wie er da mit Hut, im Seidenstreifenanzug und mit abgeschnittener Krawatte auf den an die Leinwand projizierten Text deutet. Der konzeptionelle Dichter erzählt den gut 30 Zuhörern im Roten Salon der Berliner Volksbühne unter anderem von "Day", "seinem eigenen Werk", wie er es nennt, einem 900 Seiten umfassenden Buch. Der Inhalt: eine komplette Ausgabe der "New York Times" aus dem Jahr 2000. Die hat Goldsmith abgetippt, inklusive der Börsenkurse. Eine Arbeit von eineinhalb Jahren.
"It was beautiful, it was the best."
Das Glücksgefühl, das er beim Kopieren von Zeitung, von Wetter- oder Sportbericht empfindet, wird allerdings selten erwidert.
"Ich bin wohl der am meisten gehasste Dichter in ganz Amerika."
"Dieb" sei noch eine der freundlicheren Beschimpfungen, die er sich anhören müsse, erzählt Goldsmith auf einem Sofa im Berliner Verlag Matthes & Seitz. Er bereichere sich ja nicht finanziell. Er wolle einfach nur keine eigenen Texte der unfassbaren Masse von Texten im Internet hinzufügen, sondern stattdessen mit ihnen spielen:
"In einem Moment im Jahr 1993 habe ich zum ersten Mal einen Unix-Browser auf einem dieser frühen Laptops benutzt. Und da habe ich etwas markiert und es dann aus Versehen über ein Word-Dokument gezogen und dort fallen lassen. Ich konnte es nicht fassen: 'Wie bitte?! Man kann einfach alles aus dem Internet nehmen und sich zu eigen machen?' Da habe ich gedacht: Schreiben wird nie mehr so sein wie bisher."

Veraltetes Konzept des originellen Genies

Kenneth Goldsmith wurde zum experimentellen Copy-and-Paste-Autor. Aber während die bildende Kunst, zum Beispiel Jeff Koons, meist widerspruchslos mit Kopien spielt, wird das, so Goldsmith, der Literatur nicht zugestanden. Das liege auch am veralteten Konzept des originellen Genies, das auch in den US-amerikanischen Schulen für Kreatives Schreiben verbreitet werde.
Goldsmith unterrichtet an der University of Pennsylvania dagegen den Kurs "Nichtkreatives Schreiben". Seine Studenten müssen plagiieren, kopieren, ausschneiden, einfügen, neu zusammensetzen.
"Ich bringe den Studenten bei, unoriginelle Genies zu werden. Ich erwarte nicht, dass die meisten dann eine Plagiatskarriere beginnen. Aber ich möchte ihnen ein neues Werkzeug für den Werkzeugkasten des Schriftstellers mitgeben. Und warum sollte man das nicht benutzen?"
Goldsmith, früher als "Creative Director" in der Werbebranche tätig, leitet jetzt Studenten darin an, mit Copy-and-Paste-Methoden anders kreativ zu sein und durchaus damit zu berühren. So hat Goldsmith zuletzt Walter Benjamins "Passagen-Werk" auf das New York des 20. Jahrhunderts übertragen. Auf rund 1000 Seiten:
"Davon habe ich kein einziges Wort selbst geschrieben. Zehn Jahre habe ich gebraucht, um das Buch aus anderen Büchern zusammen zu kopieren. Aber wenn ich es lese, will ich weinen. Es fühlt sich wie meine Autobiographie an. Wie kann man so sehr von etwas berührt sein, was man gar nicht geschrieben hat?"

Mischung aus Schauspielerei und nichtkreativem Schreiben

Solche Fragen stellt der konzeptionelle Poesiekünstler seinen Studenten. Die müssen zum Abschluss des Seminars eine wissenschaftliche Arbeit im Internet kaufen und dann als ihre eigene präsentieren. Eine Mischung aus Schauspielerei und nichtkreativem Schreiben.
"Ich weiß nicht, ob man das auf den Journalismus übertragen kann."
Jedenfalls hat Goldsmith nicht bemerkt, dass das Interview mit ihm aus Fragen bestand, die willkürlich von der afrikanischen Nachrichten-Seite "Buzz Kenya" kopiert worden waren. Aus 100 Fragen, bei denen sich der Befragte angeblich wohlfühle.
"Welche Tasten auf der Tastatur nutzen Sie nicht?"; "Wenn Sie eine Maschine zur Gehirnwäsche hätten, bei wem würden Sie sie benutzen?"; oder: "Haben Sie schon mal im Regen getanzt?".
Goldsmith bezieht in seinen Antworten alles auf die konzeptionelle Dichtung. Nur bei der letzten Frage wird er stutzig:
"Gibt es etwas, was Sie wissen sollten? Worüber? [lacht] Über Physik? Ja, Sie sollten wahrscheinlich im Bereich der Astrophysik ein wenig dazulernen. Es gibt so viel über Physik zu lernen."
"Gibt es Fragen? Gibt es Hass?"
Fragt Kenneth Goldsmith zum Schluss seines Vortrags im Roten Salon und macht sich selbst und allen anderen kreativ-nichtkreativen Dichtern Mut:
"Es gibt immer etwas zu kopieren und einzufügen."

Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter
Erweiterte deutsche Ausgabe
Übersetzung: Hannes Bajohr, Swantje Lichtenstein
Matthes & Seitz Verlag Berlin
351 Seiten, 20 Euro
erscheint am 30.06.2017

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