Poesie in Gebärdensprache

In die Luft gemalte Lyrik

05:12 Minuten
Screenshot der Projektseite poesiehandverlesen.de. In einem Video übersetzt eine Künstlerin Lyrik in Gebärdensprache.
Aus der Zusammenarbeit tauber und hörender Lyriker entstehen neue Formen der Poesie. © Deutschlandradio / Screenshot poesiehandverlesen.de
Von Anne Kohlick · 21.06.2019
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Literatur und Text sind in der Vorstellung meist Buchstaben auf Papier. Gehörlose Menschen erzählen Geschichten jedoch anders. Die Initiative "handverlesen" bringt Poesie in Gebärdensprache auf die Bühne, inklusive Übersetzungen in Lautsprache.
"Mir ist oft widerfahren, dass Menschen, die sagen, sie können mit Lyrik nicht so viel anfangen, bei Gebärdenpoesie dann einen anderen Zugang finden, dadurch dass Gebärdensprache nie ohne Mimik funktioniert und natürlich dann wenn die Person da steht, gleich ein Gefühl vermittelt wird", sagt Franziska Winkler. Gemeinsam mit ihrer Studienfreundin Katharina Mevissen sitzt sie in einem Café in Berlin-Mitte. 2017 haben die beiden jungen Frauen – die eine Tochter gehörloser Eltern, die andere aus einer hörenden Familie – die Literaturinitiative "handverlesen" gegründet. Ein Name, der ihnen inzwischen viel bedeutet:

"Es ist das Lesen drin. Es ist die Hand als Repräsentanz für das Gebärdensprachliche drin. Es ist aber auch das 'ver', also das Verquere. Es ist eben nicht eine Hand, die liest, sondern es ist eine Hand, die vielleicht auch was verändert, die was transformiert."

Literatur in Gebärdensprache gibt es bisher kaum

Der Literaturbetrieb hat eine Veränderung nötig, finden die Macherinnen von "handverlesen". Bisher gebe es auf den Bühnen und in den Büchern der hörenden Welt zu wenig Platz für Künstler, die mit Gebärdensprache arbeiten. In Videos auf der Website von "handverlesen" bekommt man einen Eindruck, was da bisher fehlt: Zeigefinger und Daumen spreizen sich in einem Gedicht von Laura-Levita Valyte zum "L". Die Gebärdenpoetin führt beide Hände zusammen und formt ein Rechteck vor ihrem Gesicht, dreht es, zieht die Hände wieder auseinander, spielt mit ihrer Mimik, schaut nach oben, nach unten, dreht sich. Dass so Lyrik aussehen kann, ist radikal neu für viele.
"Es ist, glaube ich, gar nicht zu unterschätzen, wie sehr allein schon der Vorschlag, man möge doch Gebärdensprache bitte als Literatur- und Poesie-produzierende Sprache anerkennen und mit hineinnehmen in den Literaturbetrieb und in Büche wie sehr das schon stört!", sagt Katharina Mevissen. "Es mag manche Personen persönlich auch stören, aber es stört vor allem das Denken über Literatur. Weil wir ja in der Schule von klein auf Lesen und Schreiben lernen und Literatur und Text können eben in dieser konventionellen Vorstellung auch nur in der Form stattfinden."
Zu sehen sind im Bild (von links) die tauben Künstler*innen Julia Hroch, Kassandra Wedel, Rafael-Evitan Grombelka und Dawei Ni.
Zu sehen sind im Bild (von links) die tauben Künstler*innen Julia Hroch, Kassandra Wedel, Rafael-Evitan Grombelka und Dawei Ni.© handverlesen

Workshops für taube und hörende Poeten

Um daran etwas zu ändern, haben Katharina Mevissen und Franziska Winkler Workshops organisiert, in denen hörende und taube Lyrikerinnen und Lyriker zusammenarbeiten. Zum Beispiel die gehörlose Künstlerin Laura-Levita Valyte. Die Tänzerin und Schauspielerin hat ihr Potential als Gebärden-Poetin erst durch solche Workshops entdeckt. Sie erzählt davon in Gebärdensprache, die wir übersetzt und nachgesprochen haben.
"Ich bin aufgewachsen, ohne Gebärdensprachpoesie zu kennen. Als ich zum ersten Mal davon hörte, war der Gedanke für mich seltsam, dass auch Gebärdensprache poetisch sein kann. Mich hat das aber total interessiert. Nach vielen Workshops kenne ich mich jetzt sehr gut aus."

Raum für Poesie

Die hörende Berliner Lyrikerin Anna Hetzer ist über "handverlesen" zum ersten Mal mit Poesie in Gebärdensprache in Berührung gekommen. Am meisten beeindruckt sie an dieser Kunstform "die Tatsache, dass es eine Poesie ist, die den ganzen Raum nutzt – im Gegensatz zu Lyrik, die im Buch gedruckt ist, die linear funktioniert."
Mithilfe von Gebärdensprach-Dolmetschern haben die Autoren ihre Gedichte gegenseitig übersetzt – von Lautsprache in Gebärden und andersherum. Eine künstlerische Leistung, die weitaus mehr fordert als die Übersetzung etwa eines englischen Gedichts ins Deutsche. Wie überträgt man immer schneller in der Luft trippelnde Zeigefinger, ein verschmitztes Lächeln, eine Drehung des Kopfes in Worte? Eins zu eins lässt sich die Gebärdensprache, in der die tauben Poeten ihre Gedichte konzipieren, nicht verschriftlichen.
"Sie entwickeln das schon als Gebärdensprache", erklärt Franziska Winkler. "Sie machen sich manchmal Notizen. Wir haben auch beim letzten Workshop uns oft ihre Notizen angeguckt, die aber teilweise auch so wirklich aus Linien und Zeichen bestehen."

Dreidimensionale Gedichte

Anna Hetzer hat sich deshalb von den tauben Poeten genau erklären lassen, was sie mit welcher Gebärde ausdrücken wollen. Dann hatte sie einen Zettel voll Notizen und bei der Wortwahl für die Übersetzung des Gebärden-Gedichts freie Hand.
"Ich hatte mich dann diesmal für eine fast rein visuelle Form der Übersetzung entschieden, die gar nicht mehr linear ist, sondern visuell arbeitet durch Texte, die ineinander übergehen, verschachtelt sind, um auch dieser dreidimensionalen Dimension gerecht zu werden."
So haben Anna Hetzers Gedichte noch nie zuvor ausgesehen. Und auch bei den tauben Poeten regt der Austausch Veränderungen an. Damit wirkt "handverlesen" wie ein Katalysator. Neues entsteht auf beiden Seiten: für die Gebärden-Poeten und die schreibenden Lyriker.
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