Poesie

Eine Meisterin der Sinnlichkeit

Ein antiker griechischer Tempel bei Nacht
Ein antiker griechischer Tempel bei Nacht © (c) dpa / Agrigento Province
Von Carola Wiemers · 11.04.2014
Für Rainer Maria Rilke war ihre Poesie der Inbegriff der Kunst schlechthin, Sokrates meinte, durch sie das Wesen der Liebe verstanden zu haben. Die Lieder der griechische Dichterin Sappho erscheinen jetzt in einer neuen Übersetzung.
Wie schön, dass die Gesänge der Sappho von Lesbos wieder einmal in Buchform vorliegen. Sie gilt als die bedeutendste griechische Dichterin des Altertums und hat bis heute zahlreiche Spuren in der Poesie hinterlassen. Nach ihr wurde eine antike Odenform als "neue Maßeinheit" der Liebe benannt, die Catull und Horaz in die römische Dichtung einführten. "Souveränität beweist die Sängerin aus Lesbos", so ihr Übersetzer Michael Schroeder, "in einer voll entwickelten Form der Innerlichkeit und deren lyrischem Ausdruck".
Sapphos dichterisches Werk umfasste einst neun Bücher mit circa 12.000 Einzelversen. Doch nur etwa 600 Zeilen – Fragmente, einzelne Worte – sind dem heutigen Leser erhalten geblieben. Der größte Teil wurde beim Brand der Bibliothek in Alexandria während der Eroberung durch Caesar 48 v. Chr. vernichtet. Was der interessierten Nachwelt heute zur Verfügung steht, wurde in Form von Zitaten in den Schriften antiker Autoren überliefert. Ausgrabungen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem antiken Friedhof von Oxyrhynchos in Ägypten vorgenommen wurden, brachten weitere Bruchstücke zum Vorschein, die aus der gepressten Papyruskartonage von Mumiensärgen stammen. Die letzten Funde datieren von Anfang 2014.
Zweimal wurde sie ins Exil verbannt
Sapphos Lebensdaten sind ungewiss, da die antiken Quellen – das byzantinische Lexikon "Suda", die "Chroniken" des Eusebius, die antike Chronik "Marmor Parium" – unterschiedliche Angaben verzeichnen. Wahrscheinlich ist, dass sie um 625 v. Chr., zur Zeit der 39. Olympiade, auf Lesbos geboren wurde. Dort gründete sie auch ihre berühmte Sängerinnenschule, wo Mädchen und Frauen Ausbildung in Poesie, Musik, Tanz und Philosophie erhielten. Sie wurde zweimal ins Exil verbannt und starb um 570 v. Chr.
In Sapphos Liebes- und Hochzeitsliedern sowie Götterhymnen spricht ein dichterisches Ich, das stolz und leidenschaftlich das Sujet der Liebenden thematisiert und in eleganter Versform mit dem äolischen Dialekt umgeht. Sokrates meinte, durch die Lieder der "weisen Sappho" das Wesen der Liebe ganz verstanden zu haben, und Platon bezeichnete sie als die zehnte Muse. Für Rainer Maria Rilke war die Poesie der Sappho der Inbegriff der Kunst schlechthin.
"Wieder schüttelt mich Eros"
In ihren Liedern drückt sich erotische Sinnlichkeit, aber auch die Zerrissenheit einer Dichterin aus, die zwar weit vor der griechischen Klassik lebte, deren Sprache jedoch äußerst modern anmutet:
"Wieder schüttelt mich Eros, / schwächt meine Glieder, / treibt mich: Süßbitteres, / entmachtendes Kriechtier."
Der Übersetzer Michael Schroeder hat ihre Lieder durch einen Erzähltext ergänzt, der ins heutige Griechenland führt. In einer Athener Taverne begegnet sein Alter Ego einer etwas flippigen Sappho-Figur, die ihn in ein Gespräch über die Tragödien ihres Landes verstrickt.

Sappho: Ich aber liege allein. Die Lieder der Sappho von Lesbos
Deutsch von Michael Schroeder
Berlin University Press, 2014
184 Seiten, 19,90 Euro

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