Zeugnisse einer unerwiderten Liebe

Als die Dichterin Anna Louisa Karsch Mitte des 18. Jahrhunderts von der schlesischen Provinz nach Berlin zieht, verliebt sie sich in den Halberstädter Domsekretär Wilhelm Ludwig Gleim. Die Liebe bleibt unerwidert - doch die Sehnsucht treibt sie zum Schreiben an. Heute, rund 250 Jahre später, wurden ihre "Sapphischen Lieder" erstmals vollständig publiziert.
Man schreibt das Jahr 1761. Anna Louisa Karsch hat in Armut gelebt, zwei schreckliche Ehen überstanden, mehrere Kinder geboren und einige wieder verloren. Sie gilt als hässlich, ist 39 Jahre alt, für damalige Verhältnisse verbraucht, an der Grenze zum Alter. Sie ist endlich aus der schlesischen Provinz nach Berlin gezogen - und ihr Leben fängt an. Sie verliebt sich, zum ersten Mal in ihrem Leben: In den Dichter und Halberstädter Domsekretär Wilhelm Ludwig Gleim. Die Liebe bleibt unerwidert. Aber sie wird zum Anlass des Schreibens, nicht nur von wundervollen Briefen, sondern auch von Liebesgedichten: leidenschaftlich, tändelnd-verspielt, eifersüchtig, sehnsüchtig, erotisch, (scheinbar) spontan.

Die Karsch-Spezialistin Regina Nörtemann hat die 62 Liebesgedichte an Gleim (der unter verschiedenen fiktiven Namen auftritt) nun erstmals vollständig publiziert und mit einem Nachwort versehen, das in Leben und Werk von Anna Louisa Karsch, die "Karschin" genannt, einführt. Als "deutsche Sappho" hatte Gleim die Karschin bezeichnet, und sie übernahm diese Zuschreibung gern: Sappho war die einzige bekannte antike Dichterin und somit das einzige Modell für spätere weibliche Autorinnen. Und sie soll sich aus unerwiderter Liebe von einem Felsen in den Tod gestürzt haben.

Das passte zur Selbstinszenierung Anna Louisa Karschs als große Liebende und taucht als Thema immer wieder in den Gedichten auf. Gleim hat diese Texte 1783 zusammengestellt und sie nach seinem Rokoko-Geschmack redigiert. Diese Eingriffe machen die Ausgabe sichtbar, indem sie die originalen handschriftlichen Fassungen den redigierten gegenüberstellt – sehr spannend zu vergleichen und höchst aufschlussreich, nicht nur für das Verhältnis der Geschlechter, sondern auch für den Geschmack und die Dichtungspraxis im 18. Jahrhundert.

Schon immer hatte Anna Louisa Karsch gedichtet und damit ein wenig Geld verdient: Vor allem Gelegenheitsgedichte, die man zu jedem besonderen Anlass benötigte, und Lobgedichte auf den König Friedrich II., das heißt auf zeithistorische Themen. In Berlin und Magdeburg findet sie Förderer und Gönner, die ihr ermöglichen, von ihrer Dichtung zu leben. Sie wird in den besten Kreisen herumgereicht, man schätzt ihre Lyrik - am meisten wohl deren Unterhaltungswert, wenn sie etwa bei Abendgesellschaften auf Zuruf von Reimen dichtet. Sie genießt den Ruf eines Naturgenies: Eine angeblich ungebildete Frau mittleren Alters, die behauptet, sie habe das Dichten nicht aus Büchern, sondern von der Natur selbst gelernt.

Damit kam sie einer neuen Mode entgegen, begann man doch gerade, Dichtung nicht mehr vorrangig als gebildete Angelegenheit zu betrachten, sondern als spontane Äußerung des Herzens. Das schloss Bildung mitnichten aus, die Karschin beweist es. Denn auch ihre Gedichte enthalten viele Anspielungen auf die abendländische Dichtungstradition, wie ja schon die Identifikation mit Sappho zeigt. Die Karschin wusste genau, wie man Effekte setzt und den Erwartungen des Publikums entspricht, und sie wusste sich hervorragend als naives Naturtalent zu inszenieren.

Und sie spricht in einem ganz eigenen Ton, empathisch, manchmal umständlich und zuweilen unfreiwillig komisch, immer lebendig, kraftvoll und beweglich. So sind diese Texte heute noch lesenswert: Als Geschichte einer unerwiderten großen Liebe, als Zeugnis eines ungewöhnlichen weiblichen Lebens- und Dichtungsentwurfs und weil sie uns eine mittlerweile etwas fern gerückte, aber spannende Epoche der europäischen Literaturgeschichte nahebringen.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Anna Louisa Karsch: Die Sapphischen Lieder. Liebesgedichte.
Herausgegeben von Regina Nörtemann
Wallstein Verlag, Göttingen 2009
328 Seiten, 29,90 Euro