Plastizität des Gehirns
Nur wenig lässt sich im strengen Sinn als angeboren erklären. Die Autorin, eine Neurobiologin, geht daher gegen die oft verbreitete Interpretation vor, die Entwicklung des Gehirns von Mädchen und Jungen sei von vornherein in eine bestimmte Richtung programmiert.
Wissenschaft analysiert nicht nur die Welt, sie gestaltet sie auch. Ärgerlich wird das, wenn Wissenschaftsergebnisse tendenziös interpretiert werden. Genau dieses Problem sieht die amerikanische Neurobiologin Lise Eliot bei der derzeitigen Hirnforschungsbesessenheit, mit ihrer ausufernden Literatur über die Unterschiede von männlichen und weiblichen Gehirnen. Selbstverständlich allesamt angeboren, unverrückbar und bedeutsam für Erziehung und Schule.
Dagegen geht Eliot in ihrem neuen Buch "Wie verschieden sind sie?" an. Ja, es gibt Studien, die überzeugend nachweisen, dass es Unterschiede in der Entwicklung von Jungen und Mädchen gibt. Nein, sie sind nicht so groß, wie oft behauptet wird (die Unterschiede in der durchschnittlichen Körpergröße von Männern und Frauen sind zum Beispiel unvergleichbar größer). Und vor allem, so Eliot: Nur wenig lässt sich im strengen Sinn als "angeboren" erklären. So sind bezeichnenderweise die Unterschiede zwischen den Gehirnen von erwachsenen Männern und Frauen deutlich größer als diejenigen von kleinen Mädchen und Jungen. Irgendetwas muss da in der Zwischenzeit passiert sein.
Was dieses etwas ist, beschreiben Neurobiologen wie Lise Eliot mit dem Begriff der "Plastizität" des Gehirns. Das Gehirn ist nicht ein für allemal festgelegt, vielmehr entwickelt es die in ihm angelegten Fähigkeiten erst durch Betätigung. Alle Menschen haben eine angeborene Fähigkeit zur Sprache, sie entwickeln sie aber nur in einer Umgebung, in der sie das Sprechen auch üben können. Wenn männliche und weibliche Gehirne also Unterschiede aufweisen, so liegt das zu einem guten Teil auch daran, was und wie sie gelernt haben. Sei es explizit, in der Schule oder implizit, durch gesellschaftlich übermittelte Verhaltensweisen.
Anschaulich beschreibt Eliot in ihrem Buch die Geschlechterunterschiede im männlichen und weiblichen Hormonhaushalt und Gehirn, von der embryonalen Entwicklung über das Kleinkindalter und Schulzeit bis zum erwachsenen Stadium. Sie diskutiert zahlreiche Studien und erklärt sorgfältig, wie weit deren Ergebnisse reichen. Die beliebten und viel zitierten Studien an Mäusen und Ratten seien zwar gut, ihre Aussagekraft für den Menschen leidet aber darunter, dass Menschenhirne ungleich entwicklungsfähiger sind als die der Nager.
Wohltuend unhysterisch überbrückt Eliot mit ihrer ausgewogenen Diskussion von neurowissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Studien den sonst oft so schrill herausgestellten Gegensatz zwischen "Natur" und "Kultur", zwischen "angeboren" und "anerzogen. Es ist wohl ein bisschen vom ersten und viel vom zweiten. Immer wieder betont sie in praktischer Hinsicht, dass wir mit den Ungleichheiten eher in einer ausgleichenden als in einer verschärfenden Weise umgehen sollten.
Denn die Überbetonung der Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen ist nicht nur wissenschaftlich falsch, sondern auch erzieherisch fatal, indem sie genau das herstellt, was sie vorzufinden behauptet: Wer gar nicht erst davon ausgeht, dass Jungen emotionale Bindungen aufbauen können, wird dies nicht fördern; wer Mädchen für wenig mathematikbegabt hält, wird sie darin nicht ermutigen.
Rezensiert von Catherine Newmark
Lise Eliot: Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen
Übersetzt von Christoph Trunk
Berlin Verlag, Berlin 2010
604 Seiten, 26 Euro
Dagegen geht Eliot in ihrem neuen Buch "Wie verschieden sind sie?" an. Ja, es gibt Studien, die überzeugend nachweisen, dass es Unterschiede in der Entwicklung von Jungen und Mädchen gibt. Nein, sie sind nicht so groß, wie oft behauptet wird (die Unterschiede in der durchschnittlichen Körpergröße von Männern und Frauen sind zum Beispiel unvergleichbar größer). Und vor allem, so Eliot: Nur wenig lässt sich im strengen Sinn als "angeboren" erklären. So sind bezeichnenderweise die Unterschiede zwischen den Gehirnen von erwachsenen Männern und Frauen deutlich größer als diejenigen von kleinen Mädchen und Jungen. Irgendetwas muss da in der Zwischenzeit passiert sein.
Was dieses etwas ist, beschreiben Neurobiologen wie Lise Eliot mit dem Begriff der "Plastizität" des Gehirns. Das Gehirn ist nicht ein für allemal festgelegt, vielmehr entwickelt es die in ihm angelegten Fähigkeiten erst durch Betätigung. Alle Menschen haben eine angeborene Fähigkeit zur Sprache, sie entwickeln sie aber nur in einer Umgebung, in der sie das Sprechen auch üben können. Wenn männliche und weibliche Gehirne also Unterschiede aufweisen, so liegt das zu einem guten Teil auch daran, was und wie sie gelernt haben. Sei es explizit, in der Schule oder implizit, durch gesellschaftlich übermittelte Verhaltensweisen.
Anschaulich beschreibt Eliot in ihrem Buch die Geschlechterunterschiede im männlichen und weiblichen Hormonhaushalt und Gehirn, von der embryonalen Entwicklung über das Kleinkindalter und Schulzeit bis zum erwachsenen Stadium. Sie diskutiert zahlreiche Studien und erklärt sorgfältig, wie weit deren Ergebnisse reichen. Die beliebten und viel zitierten Studien an Mäusen und Ratten seien zwar gut, ihre Aussagekraft für den Menschen leidet aber darunter, dass Menschenhirne ungleich entwicklungsfähiger sind als die der Nager.
Wohltuend unhysterisch überbrückt Eliot mit ihrer ausgewogenen Diskussion von neurowissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Studien den sonst oft so schrill herausgestellten Gegensatz zwischen "Natur" und "Kultur", zwischen "angeboren" und "anerzogen. Es ist wohl ein bisschen vom ersten und viel vom zweiten. Immer wieder betont sie in praktischer Hinsicht, dass wir mit den Ungleichheiten eher in einer ausgleichenden als in einer verschärfenden Weise umgehen sollten.
Denn die Überbetonung der Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen ist nicht nur wissenschaftlich falsch, sondern auch erzieherisch fatal, indem sie genau das herstellt, was sie vorzufinden behauptet: Wer gar nicht erst davon ausgeht, dass Jungen emotionale Bindungen aufbauen können, wird dies nicht fördern; wer Mädchen für wenig mathematikbegabt hält, wird sie darin nicht ermutigen.
Rezensiert von Catherine Newmark
Lise Eliot: Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen
Übersetzt von Christoph Trunk
Berlin Verlag, Berlin 2010
604 Seiten, 26 Euro