Plakat-Kunst

Die Sprache der Straße

Die "Schwimmwasser"-Plastik des verstorbenen Schweizer Künstlers Jean Tinguely steht vor dem Eingang des für ihn erbauten Museums in Basel.
Die "Schwimmwasser"-Plastik des verstorbenen Schweizer Künstlers Jean Tinguely steht vor dem Eingang des für ihn erbauten Museums in Basel. © picture-alliance / dpa / Rolf Haid
Von Johannes Halder · 21.10.2014
Das Museum Tinguely widmet fünf Hauptakteuren der sogenannten "Affichisten" - darunter der Deutsche Wolf Vostell - eine große Schau. Seit Ende der 40er-Jahre rissen sie Werbeplakate von den Wänden der Großstädte und machten daraus Kunst von eigenwilliger Schönheit.
Plakate abreißen – eigentlich war das Diebstahl, Sachbeschädigung, Vandalismus – juristisch ein Delikt. Aber gerade diese Art der Materialbeschaffung, der Reiz des Verbotenen, erhöhte für die sogenannten "Affichisten" die Lust am subversiven Spiel. Denn wo kann man das sonst bekommen: lädiertes Papier, von der Sonne ausgebleicht, vom Wind zerzaust, vom Regen verwaschen und zerfetzt. Paris war dafür der geeignete Ort, sagt Museumschef Roland Wetzel:
"Paris war eine der am frühesten entwickelten Städte, was diese Plakatwerbung anbetraf. Man denke nur an die Metro, diese Riesenformate in diesen Tunnels drin, also das ist eben einzigartig auch. Und dann eben in den 50er-Jahren, mit dem aufkommenden Warenkapitalismus, war wirklich die Stadt fast zugepflastert von Plakaten."
Da hängen sie jetzt im Museum, manche vier Meter lang, manche kaum größer als die Fläche einer Hand. Zwischen Flecken, Fetzen und Fragmenten kommen verstümmelte Nachrichten zum Vorschein: zerstückelte Lettern, Textbruchstücke, Buchstabenreste, eingebettet zwischen farbige Felder und Spuren von Schmutz und Schimmel. Es ist, als habe sich eine eigenwillige Poesie durch das Papier gefressen.
Fotografen und Dichter bereicherten die Szene
Nicht nur das: Raymond Hains fotografierte durch eine geriffelte Linse und zerhackte so die Wirklichkeit in Streifen – eine hektische Großstadtoptik. Und François Dufrêne, der eigentlich ein Dichter war, bereicherte die Szene mit akustischen Effekten, so wie hier im September 1949.
Ausschnitt: Dufrêne: Poème lettriste
Großstadtpoesie, die Sprache der Straße, rhythmisch, laut und überreizt.
"Er war eigentlich der erste Beatboxer, der mit dem Mikrofon Experimente gemacht hat, um Geräusche, um fast Perkussion zu erzeugen, und der dann eben diese Sprache am radikalsten fragmentiert hat."
Später verlegte sich auch Dufrêne vom Rezitieren auf das Plakatabreißen und verpasste seinen Werken eine zarte, fast lyrische Note. Der Italiener Mimmo Rotella fand seine Motive vor allem in den Kinoplakaten der Zeit.
"Anfang der 50er-Jahre studierte ich in Rom und holte mir die abgerissenen Plakate von den Mauern der Stadt. Damals gab es noch viel politische Propaganda. Kinoplakate gab es erst später, so um 1960. Da gingen die Schauspieler und Produzenten von Hollywood nach Rom und drehten in Cinecittà, weil das billiger war. Damals war ganz Rom buchstäblich zutapeziert mit diesen Plakaten von Sophia Loren oder Marilyn Monroe, es waren viel Bilder vom Kino."
Nervenkitzel wie heute beim Sprühen von Graffiti
Der Deutsche Wolf Vostell, der das Prinzip der Décollage als Methode der Enthüllung begriff, entriss den Plakatwänden vor allem politische Botschaften.
"Wir haben in unserer Ausstellung auch einen ganzen Raum eigentlich den politischen Plakaten gewidmet, und da sieht man diese ganzen Auseinandersetzungen, Algerienkrieg, die kommunistische Partei, die damals noch sehr stark war, und dann 1968, wo eine neue Epoche eingesetzt hat."
Wenn die Künstler auf nächtlichen Streifzügen durch die Straßen gingen und die erbeuteten Pappen, steif und schwer wie Bretter, nach Hause transportierten, spürten sie wohl den gleichen Nervenkitzel wie heutzutage die Großstadtkids beim Sprühen von Graffiti. Es gibt köstliche Fotos, auf denen Jacques Villeglé wie ein Bergsteiger eine mächtige Plakatwand erklimmt, um die verkleisterten Papiere mit einem rabiaten Ruck herunterzureißen.
"Wie Villeglé mir selbst erzählt hat, war es damals hochgefährlich eigentlich, diese Plakate abzunehmen."
Mancher Kritiker pries denn auch die "rohe Realität" dieser Straßenkunst, glaubte darin die "Zeugen einer zerrissenen Gesellschaft" zu erkennen oder feierte sie als "soziologische Dokumentation".
Solchen Deutungen mag man je nach persönlicher Neigung auf den Leim gehen oder nicht. Die Basler Schau ist jedenfalls eine Augenweide. Als Besucher flaniert man durch einen labyrinthischen Parcours wie durch die Straßen einer Stadt und kann sich die Wände entlang mit den Augen durch die patinierten Pappen wühlen. Noch nie war Altpapier so schön.
Die Ausstellung "Poesie der Großstadt. Die Affichisten" ist im Museum Tinguely in Basel bis zum 11. Januar 2015 zu sehen.
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